Dieser Abguss eines spätantiken Gefäßes (um 400 n. Chr.), der zur Sammlung des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der JGU gehört, wurde sehr wahrscheinlich um 1950 von Friedrich Gerke (1900 - 1966), dem damaligen Leiter des Mainzer Instituts für Kunstgeschichte, angeschafft.
Er wirkte dort als Professor für Allgemeine Kunstgeschichte und sein Schwerpunkt lag auf frühchristlicher und byzantinischer Kunst. Daher kaufte er zu Lehrzwecken Abformungen von Kleinkunstwerken, aber auch Kopien von Mosaiken des 6.Jh. aus Ravenna, die jetzt im Foyer des Georg-Forster-Gebäudes angebracht sind. Bevor Gerke 1946 das Mainzer Institut gründete, war er Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte in Berlin und kannte gewiss aus eigener Anschauung das Original, welches sich heute im Museum für Byzantinische Kunst Berlin befindet. Die Königliche Kunstkammer Berlin erwarb das Kleinod 1843 in Koblenz. Wo die spätantike Dose gefertigt wurde, bleibt im Dunklen. In Frage kommen die künstlerischen Zentren der damaligen Zeit: Mailand, Antiochia, Konstantinopel oder Alexandria. Wegen des Erwerbs an der Mosel kam die Vermutung auf, dass das Stück in Trier, welches damals als Kaiserresidenz diente, hätte geschnitzt worden sein können.
Das Werk leitet seinen Namen „Große Berliner Pyxis“ von den 14,5 cm Durchmesser auf nahezu rundem Grundriss ab. Damit ist es die breiteste Büchse aus Elfenbein der weltweit etwa 70 erhaltenen Stücke. Solche Gefäße wurden ressourcensparend aus der Hohlung und dem Endstück des Elefantenzahns, der von Natur aus ringartig um das weiche Gewebe (Pulpa) wächst, geschnitzt. Elfenbein war bereits in der Antike ein kostbarer Werkstoff und daraus gefertigte Gegenstände lassen auf einen sozial höher gestellten Besitzer und auf einen exklusiven Gebrauch z.B. im religiösen Kontext schließen. Leider vermittelt der stumpfe Gipsabguss gar nichts von dem edlen Schimmer des Materials aus dem die originale Dose gefertigt wurde. Wenn auch die Faszination für den Naturstoff fehlt, so zeigt der Abguss aber wie lebendig und elegant die Figuren geschnitzt wurden.
Friesartig reihen sich diese Figuren nahezu über die gesamte Höhe der Pyxis auf. Es gibt zwei Szenen: etwa drei Viertel des Gefäßumfangs sind der sog. Lehrszene gewidmet, die Christus im Kreis seiner Jünger beim Gespräch zeigt. Gegenüber befindet sich die auf der oberen Fotografie zu sehende Opferung Isaaks durch Abraham (Gen 22,1-19).
Christus, der als Zeichen seiner Jugendlichkeit bartlos dargestellt wird, sitzt frontal auf einem Thron und stellt seine Füße, die er hier als einzige Person mit Sandalen bekleidet hat, auf einen Fußschemel. Seine Hand ist im Redegestus erhoben. Überfangen wird die Szene mit einem schmalen Baldachin. Diese vier Elemente (Schuhwerk, Thron, Frontalität und architektonischer Rahmen) sind der Darstellung von Kaisern wie z.B. der des Silbermissoriums Theodosius I. (388 oder 393) entlehnt und dem spätantiken Menschen als hohe Würdeformeln bekannt gewesen. Auf Falthockern sitzen jeweils zwei Männer, die durch ihre Frisur und Bartgestaltung als Petrus und Paulus identifiziert werden. Seitlich befindet sich jeweils eine Gruppe aus fünf stehenden Männern unterschiedlichen Alters, die wegen der Umhänge und Gewänder (Pallium und Tunika) sowie der Schriftrollen und Bücher an die Darstellung von antiken Philosophen erinnern. Ihre ausdrucksstarke Gestik verrät, dass sie angeregt über die Worte Christi, der seine Botschaft verkündet, diskutieren. Die pagane Tradition des Philosophenkollegiums bzw. der Gelehrtenversammlung, die schon in der Katakombenmalerei des 4. Jh. vorkam, lebt hier weiter fort.
Das Besondere an diesem Stück ist nicht nur die große Kunstfertigkeit und die Masse an kostbarem Material, sondern auch die Durchdringung von unterschiedlichen Sphären: christliche Inhalte, kaiserliche Motive und philosophische Lehrszenerie. Ermöglicht wurde diese in sich stimmige Kombination durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion, die Beliebtheit der griechischen Philosophie in der spätrömischen Gesellschaft und die Legitimation der römischen Kaiser seit Konstantin durch Christus.
Zwischen den Figuren blitzen in unregelmäßigen Abständen Kapitelle und Säulen hervor. Diese Architekturelemente tragen optisch einen Eierstab, der als umlaufendes Gebälk mit dahinterliegendem Falz den oberen Abschluss der Dose bildet. Einen Deckel gibt es nicht mehr, aber er muss existiert haben. Einige Forscher stellen sich sogar vor, dass dieser kuppelartig gestaltet war und als imposante Bekrönung emporragte.
Es gibt Vermutungen, was in solchen Dosen aufbewahrt wurde. Meist versucht man über die Bedeutung der dargestellten Personen und Szenen den Zweck zu rekonstruieren und stellt sich bei christlichen Themen einen Gebrauch für Hostien, Reliquien oder Weihrauch vor. Wegen der Opferung Isaaks, die als Vorwegnahme des Opfertodes Christi gedeutet wird, ist es nach Fritz Volbach gut denkbar, dass konkret dieses Behältnis die Eucharistie beherbergte.
Martin Reihl M.A., Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, Abteilung Kunstgeschichte
Literatur
- Arne Effenberger und Hans-Georg Severin: Das Museum für spätantike und byzantinische Kunst, hrsg. von den staatlichen Museen zu Berlin, Mainz 1992.
- Archer St.Clair: The Iconography of the Great Berlin Pyxis, in: Jahrbuch der Berliner Museen, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Bd. 20, 1978, S. 5-27.
- Christoph Stiegemann: Frühchristliche Kunst in Rom und Konstantinopel, hrsg. vom Diözesan Museum Paderborn, Paderborn 1996.
- Wolfgang Fritz Volbach: Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des Frühen Mittelalters, Mainz 1976.