So unscheinbar es wirkt, ist das Protokollbuch des Rotbuchkollektivs mit dem programmatischen Titel des Buches: „Ab jetzt wird alles ganz anders!“ doch eines der für die Wissenschaft wertvollsten Objekte des Mainzer Verlagsarchivs.
Um seine Bedeutung zu erfassen, muss man sich über den besonderen Stellenwert des Rotbuch Verlags im Klaren sein: Der Verlag wurde 1973 in Berlin als Abspaltung von Mitarbeitern des Verlags Klaus Wagenbach gegründet. Rotbuch hatte als kollektiv geführter Verlag eine Sonderstellung in der Bundesrepublik: Die hier Beschäftigten waren gleichzeitig Eigentümer/innen und entschieden gemeinschaftlich über Organisation, Finanzen und Programm, Auswahl der Autoren, Vertrieb und Ladenpreis.
Diese kollektiven Arbeits- und Entscheidungsprozesse können im Protokollbuch nachvollzogen werden, das in handschriftlichen Ausführungen die Zeit von 1981 bis 1993 näher beleuchtet: Die Kollektivmitglieder trafen sich abwechselnd vormittags im Verlag (für eine kürzere Sitzung mit rascheren Entscheidungen) oder abends in privatem Raum (für eine ausführliche Diskussion über Programmentscheidungen mit „open end“). Die Protokolle wurden alternierend von verschiedenen Mitarbeiter/innen geführt, dementsprechend unterschiedlich sind sie in Stil und Informationsgehalt: Manchmal werden knapp und stichwortartig Entscheidungen notiert (Annahme oder Ablehnung von Manuskripten, Titelfindung), manchmal ausführlicher die gruppendynamischen Prozesse und Konflikte des Kollektivs protokolliert.
Ein wiederkehrendes Thema war zum Beispiel die Arbeitsbelastung der Einzelnen und die Aufteilung der Arbeit. Denn obwohl die Rotbüchler anfangs die Arbeitsteilung aufheben oder zumindest minimieren wollten, wurde im Laufe der Zeit immer deutlicher, dass man sich im Verlag auf bestimmte Arbeitsbereiche spezialisieren muss, zum Beispiel auf das Lektorieren von Texten oder auf den Vertrieb der Verlagsprodukte. Zur Entscheidung über Manuskripte wurden folgende Regelungen festgelegt: Über die Annahme entschied mit einfacher Mehrheit das Gesamtkollektiv, nachdem im politischen oder literarischen Lektorat eine Vorwahl getroffen sowie in den zugehörigen Ausschüssen diskutiert worden war. Bei Nichtübereinstimmung in den Lektoratsausschüssen waren laut Verlagsverfassung sowohl ein Gutachter als auch die übrigen Kollektivmitglieder mit einzubeziehen, um eine eindeutige und akzeptierte Mehrheit zu erreichen. Entgegen dieser Bestimmungen war das Kollektiv sich darüber bewusst, dass die Lektorinnen und Lektoren in der Praxis besonderes Gewicht hatten, da Literaturgeschmack als nicht „zu vergemeinschaftendes Unternehmen“ (Lektorin Gabi Dietze in einem Interview) zu bewerten waren, Entscheidungen über Manuskripte also nicht komplett kollektiviert werden konnten.
Das Protokollbuch gehört mit anderen Lektoratsunterlagen zum Rotbuch-Archiv, das Teil des Mainzer Verlagsarchivs (MVA) ist. Das MVA wurde im Jahre 2009 von Univ.-Prof. Dr. Stephan Füssel, dem Leiter des Instituts für Buchwissenschaft, gegründet. Das Äußere des Buches ist unspektakulär: Grau, vergilbt, abgenutzt durch die jahrelange Benutzung. Der Aufdruck „EVP 3,30 M“ auf der Rückseite verrät, dass diese Kladde in der DDR gekauft wurde, denn so wurde dort der Endverbraucherpreis von 3,30 DDR-Mark ausgewiesen. Da der Verlag unter anderem ein Forum für Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR oder anderer osteuropäischer Staaten bot, ist es denkbar, dass einer der Lektoren nach einem Treffen mit einem Autor in Ost-Berlin das Buch erstanden hatte.
C.G., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Mainzer Verlagsarchiv