Das erste Objekt des Monats stammt aus der Original-Sammlung des Arbeitsbereichs Klassische Archäologie am Institut für Altertumswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Es handelt sich um einen um 410 v. Chr. in Athen bemalten Deckel eines Gefäßes, das in der Antike entweder als Brautgeschenk oder Totengabe diente. Die dargestellten Frauenfiguren stehen für ein durchaus anspruchsvolles moralisches Programm.
Während draußen der Peloponnesische Krieg tobte, an deren Ende die stolzen Athener, zermürbt von zahlreichen militärischen Katastrophen und der Pest, eine verheerende Niederlage zu verkraften hatten, fertigte im betriebsamen Handwerkerviertel der Stadt, dem Kerameikos, gegen 410 v. Chr. ein für uns namenloser Töpfer eine kleinere Schüssel (Durchmesser ca. 23 cm) mit Deckel, eine sogenannte Lekanis. Gedacht war das kostbare Gefäß wohl als Geschenk für eine Braut oder als Totengabe für ein früh verstorbenes Mädchen, dem es nicht vergönnt gewesen war, zu Lebzeiten das erklärte Lebensziel aller Athenerinnen zu erreichen, die Hochzeit.
Wer immer die Lekanis in der Antike in die Hand nahm, dürfte sich zunächst an dem Reigen festlich gekleideter junger Frauen erfreut haben, mit dem der Töpfer selbst oder ein mit ihm in der Werkstatt tätiger Malerkollege den Deckel noch vor dem Brand verziert hatte. Die insgesamt sechs weiblichen Figuren sind kompositionell zu zwei Dreiergruppen zusammengefasst. Um eine Sitzende gruppieren sich jeweils zwei Stehende, die mit Bändern geschmückte Gefäße sowie Kästchen herantragen und diese offenbar als Geschenke offerieren.
Wer sind nun diese jungen Damen? Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, es seien Athener Bräute mit ihren Brautjungfern, die sich – darauf deuten die felsigen Sitze und einige Pflanzen hin – in der freien Natur versammelt haben. Doch war es den Frauen in Athen im Allgemeinen gar nicht erlaubt, sich außerhalb der schützenden Wohnhäuser aufzuhalten, die in klassischer Zeit zudem keinen Garten hatten, es sei denn, sie besuchten die Tempel. Handelt es sich also um die Darstellung einer hochzeitlichen Kulthandlung im Heiligtum einer weiblichen Gottheit wie Artemis oder Aphrodite, die beide im Kontext der Hochzeit wichtige Göttinnen waren? Dazu passen auch die diversen mit Bändern (gr. Tänien) geschmückten Gefäße, Kästchen und Truhen sowie der mitabgebildete größere Vogel, wohl eine Gans, ein typisches Opfertier.
Schaute der antike Betrachter aber genauer hin, sah er Inschriften, die ihm entscheidende Verständnishilfen boten. Demnach ist eine der sitzenden Hauptfiguren, nämlich die, die einen kleineren Vogel hält, als Eunomia, die Personifikation der guten Ordnung, anzusprechen. Ihr überreicht Eukleia, die Personifikation des hohen Ansehens, ein Kästchen. Daneben existiert noch eine dritte Namensbeischrift, die freilich Schwierigkeiten bereitet. Zwischen der zweiten Sitzenden und der vor ihr mit einem Kästchen in den Händen Stehenden lässt sich entweder Paphia, ein Beiname der bei Paphos auf Zypern dem Meer entstiegenen Liebesgöttin Aphrodite, oder Paidia (verschrieben in Padia) lesen. Wäre die letztgenannte Lesung die richtige, so hätte der Maler eine weitere Personifikation, die von Spiel, Scherz und Tanz, dargestellt. In Anbetracht der im Figurenreigen mit abgebildeten Gans, die in der Antike ein wichtiges Attributtier der Liebesgöttin war, scheint es aber wohl naheliegender, in der Sitzendenden Aphrodite selbst zu erkennen.
Damit erhält die beschauliche Szenerie eine inhaltliche Wertigkeit, die aus einer einfachen Schüssel ein Braut- oder Totengeschenk mit moralischem Anspruch macht. Das vordergründig dargestellte lebensweltliche Hochzeitsglück einer jungen Braut, deren Verwandte, Freundinnen und/oder Dienerinnen ihr Geschenke sowie Gegenstände des Hochzeitsrituals reichen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen folglich als anspruchsvolle Bildallegorie, als Verheißung einer auf ehelicher Harmonie und untadeligem familiären Ruf gegründeten friedlich-ruhigen Gesellschaft, über die die lebensspendende Göttin Aphrodite wacht.
Eine solche Glückseligkeitsidylle steht in der Kunst der Zeit nicht allein dar. Ähnliche Bilder aus dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts v. Chr. lassen erahnen, wie sehr sich die zeitgenössischen Athener in einer Phase enormer Umwälzungen und Katastrophen, die der Peloponnesische Krieg mit sich brachte, offenbar nach einer geordneten Lebensführung in einem heiteren Umfeld sehnten. Sie träumten sich geradezu in eine intim anmutende Wunschwelt, die so gar nicht der grausamen Realität entsprach. Welche Hoffnungen und Sehnsüchte eine junge Athener Braut mit derartigen Bildern verband, lässt sich angesichts eines jederzeit drohenden Schlachtentodes ihres Bräutigams nur mehr erahnen. Das Heitere des Bildes mag schnell dem Dunkel des alltäglichen Schreckens Platz gemacht haben.
Dr. Patrick Schollmeyer
Objekt des Monats Mai 2014
Daktyliothek des Sebastian Hess
Objekt des Monats August 2013
Die Häutung des Marsyas
Literatur (Auswahl)
- E. Simon – R. Hampe, Griechisches Leben im Spiegel der Kunst (2. Auflage 1985) 29.
- E. Böhr, Corpus Vasorum Antiquorum Mainz, Universität 2 (1993) 45 ff.
- C. Christmann, Auf der Suche nach Harmonie – Antike Personifikationen, in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz (1999) 87 ff.
- B. E. Borg, Der Logos des Mythos. Allegorien und Personifikationen in der frühen griechischen Kunst (2002) 189. 191. 200. 201.