Vor gut 50 Jahren erhielt der Arbeitsbereich Klassische Archäologie des Instituts für Altertumswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) aus der Schweiz eine fünfbändige Sammlung von Gipsabdrücken antiker und neuzeitlicher Gemmen zum Geschenk.
Diese sogenannten Daktyliotheken wurden in der Forschung lange nicht beachtet und erfahren erst gegenwärtig wieder großes Interesse. Für die Gelehrten der Goethezeit waren sie unverzichtbare Wissensspeicher.
Unter dem Begriff der Daktyliothek, der aus dem Altgriechischen stammt und wörtlich ein Behältnis von Fingerringen meint, versteht die gelehrte Welt seit dem 18. Jahrhundert eine Sammlung von Abdrücken geschnittener Bildsteine, den sogenannten Gemmen und Kameen. Ursprünglich als Ersatz für tatsächliche Gemmensammlungen gedacht, deren Erwerb wegen ihres enormen Wertes nur wenigen, in der Regel adeligen und hochadeligen Kennern möglich war, entwickelten sich die wesentlich preisgünstigeren Dakytliotheken rasch zu einer populären Publikationsform für breitere Gelehrtenkreise. Als Material für die Abdrücke wurde meist Gips oder Schwefel verwendet. Man fertigte aber auch Glaspasten an. Ebenso sind Experimente mit Pappmaché und sogar frischem Brot überliefert. Der Ursprung dieser Kunst lag wohl in Italien, insbesondere in Rom, wo sich im 18. Jahrhundert eine regelrechte Souvenirindustrie etabliert hatte, deren europaweit geschätzte Arbeiten – darunter Gemälde, Stiche, Kleinbronzen, Mikromosaiken, Korkmodelle antiker Ruinen etc. – das Bedürfnis der zahllosen Romreisenden, so auch Goethes, nach einer dauerhaften Erinnerung an die unvergleichlichen Schönheiten der ewigen Stadt befriedigten.
Der Vorteil der Gemmenabdrücke bestand nicht nur in deren vergleichsweise günstigen Anschaffungspreis, sondern darüber hinaus in ihrer leichten Transportierbarkeit. Allein damit wäre ihre Beliebtheit gerade für Gelehrte wie Goethe jedoch nicht erklärt. Dass er bereits am 13. Januar 1787 an Herzog Carl August schrieb, "auch habe ich mich zu den Gemmen gewendet und werde eine kleine Sammlung der besten Schwefel mitbringen", zeigt sein großes Interesse. Schon im September desselben Jahres bekundet er dann stolz in seinem Tagebuch der italienischen Reise: "Ich habe mir eine Sammlung von zweihundert der besten Antiken-Gemmen-Abdrücke angeschafft. Es ist das Schönste, was man von alter Arbeit hat, und zum Theil [sic.] sind sie auch wegen der artigen Gedanken gewählt. Man kann von Rom nichts Kostbareres mitnehmen …"
Die von Goethe gefeierte Kostbarkeit lag aber nicht im Material begründet, sondern hatte andere, tiefere geistige Gründe. Im Kontext der Aufklärung befinden wir uns damit inmitten einer grundsätzlichen wahrnehmungstheoretischen Diskussion. Goethe und seinen Zeitgenossen war es zuwider, von der Kunst stets nur in abstracto zu sprechen. Dies spricht er in seiner Einleitung zu den Propyläen auch deutlich aus, wenn er schreibt: "Um von Kunstwerken, eigentlich und mit wahrem Nutzen für sich und andere, zu sprechen, sollte es freilich nur in Gegenwart derselben geschehen. Alles kommt aufs Anschauen an, es kommt darauf an, dass bei dem Wort, wodurch man ein Kunstwerk zu erläutern hofft, das bestimmteste gedacht werde, weil sonst gar nichts gedacht wird."
Heute mag uns dies befremden, doch muss man sich nur vergegenwärtigen, wer in der damaligen Zeit wirklich die Möglichkeit hatte, die so hoch geschätzte antike Kunst und noch dazu die Meisterwerke der römischen Sammlungen je im Original oder wenigstens im maßstäblichen Abguss zu sehen. Nicht nur in Weimar saß man hier geradezu auf dem trockenen Boden der Provinz. Zudem war das bildliche Massenmedium der Zeit, der Kupferstich, aktuell wegen des Unvermögens einer wirklich realistischen Wiedergabe und damit der Tendenz zur Verfälschung in die Kritik geraten.
Nach Johann Gottfried Herder (1744-1803), dem gerade die Weimarer Geistesgrößen bereitwillig folgten, sollte aber jeder, der wirklich etwas verstehen will, sich aus eigener Anschauung einen tatsächlichen Begriff von einer Sache machen, im wahrsten Sinn des Wortes also etwas begreifen. Und gerade dazu eignen sich die Daktyliotheken vorzüglich. Die hohe Kunst der Antike konnte jetzt von jeder interessierten Person in die Hand genommen und mit eigenen Augen betrachtet werden. Die Daktyliotheken avancierten damit zum damaligen Topmedium eines anschaulichen Unterrichts, weshalb sie gerade in der Kunsterziehung an höheren Schulen und Kunstakademien vermehrt zum Einsatz kamen.
Man kann ohne Übertreibung von ihnen als den Notebooks der Goethezeit sprechen. Die kleinen Gipse sind damit grundsätzlich vergleichbar unseren modernen Bemühungen um eine möglichst breit gestreute visuelle Wissensspeicherung und Wissensvermittlung. Es ist zwar technisch ein großer Schritt von ihnen zu den Bilddatenbanken unserer Zeit, inhaltlich und gedanklich aber nur ein recht kleiner.
Auf diesen zu seiner Zeit überaus populären Zug versuchte auch der wohl hauptsächlich in Wien als Herausgeber gelehrter Schriften tätige Sebastian Hess zu springen, als er um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine eigene Daktyliothek zusammenstellte. Die Editionsgeschichte dieses Unternehmens ist aktuell noch nicht geklärt. In diversen europäischen Institutionen befinden sich hinsichtlich des Bandumfangs recht unterschiedliche Versionen der Hess'schen Daktyliothek.
Insofern lässt sich mehr über die sicherlich sehr interessante Vorgeschichte des Mainzer Exemplars zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht sagen. Betrachtet man die kleinen Abdrücke genauer, so fällt auf, dass nur die wenigsten Abdrücke von tatsächlichen antiken Gemmen stammen. Das allermeiste ist dagegen neuzeitlich und es handelt sich hierbei noch dazu um Reproduktionen berühmter antiker Statuen aus den großen Sammlungen Italiens. Der Apoll vom Belvedere aus dem Vatikan, die damals berühmteste Skulptur des Altertums, ist darunter ebenso zu finden wie die nicht minder bekannte Laokoon-Gruppe.
Aber auch die sogenannte Aldobrandinische Hochzeit, ein antikes römisches Wandgemälde, wurde wegen seiner Popularität für Wert geachtet, als vermeintlicher Gemmenabdruck in die Daktyliothek aufgenommen zu werden. Das von Sebastian Hess zusammengestellte Konvolut war demnach für eine Käuferschicht gedacht, die ein dreidimensionales Bilderbuch der antiken Meisterwerke italienischer Sammlungen zu besitzen wünschte. Ob diese Daktyliothek damals allein privatem Kunstgenuss mit mehr oder minder gelehrten Gesprächen gedient hat oder gar in öffentlichen Bildungsanstalten Verwendung fand, kann nicht mehr geklärt werden. Der eingangs geschilderte generelle Anspruch aller Daktyliotheken, eine wohlfeile Schule des Sehens zu sein, ist freilich auch diesem speziellen Exemplar eigen und macht seinen besonderen Reiz aus.
Dr. Patrick Schollmeyer
Objekt des Monats August 2013
Die Häutung des Marsyas
Objekt des Monats Mai 2013
Der Mainzer Lekanis-Deckel
Literatur (Auswahl)
- Valentin Kockel, Daniel Graepler (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Augsburg/Göttingen 2006/2007 (2006)
- Helge C. Knüppel, Daktyliotheken. Konzepte einer historischen Publikationsform, Stendaler Winckelmann-Forschungen Band 8 (2009)