Wie unterschiedlich deutsche Geschichte interpretiert, vor allem aber wie sehr sie instrumentalisiert werden kann, beweist der Blick zurück in die ersten Jahre nach der Gründung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Am Beispiel der Kontroverse der drei Kontrahenten Wilhelm Boudriot, Gustav Zerres und Karl Barth.
Wilhelm Boudriot, dessen Todestag sich heute zum 70. mal jährt, wurde 1946 als Professor an die Universität Mainz berufen – damals noch nicht ahnend, welch politisches Unheil ihm bald schon bevorstehen sollte. Boudriots Lesart der deutschen Geschichte zeigte sich im Herbst 1946, als er es sich zur Aufgabe machte, den reformierten Theologen Karl Barth aus der Schweiz scharf zu kritisieren.
Eine Linie, zwei Ansichten
Barth erkannte eine klare, historische Linie vom „Alten Fritz“aus der Zeit der Spätaufklärung über Otto von Bismarck bis hin zu Hitler: Der ganze Weg sei, so Barth, ein einziger politischer Fehlschlag gewesen. Ein Fehlschlag, der letztlich in die Unmündigkeit und Unselbstständigkeit der deutschen Volkes führte. Und damit zur Katastrophe des „Dritten Reiches“.
Wilhelm Boudriot war da ganz anderer Meinung. Er sah im „Alten Fritz“, der ja schließlich auch „der Große“ heißt, einen edlen Eroberer und in Otto von Bismarck den Erschaffer des modernen Deutschen Reiches. Beide waren für ihn keineswegs Machtpolitiker, sondern große Herrscher. Denn ihnen sei es nicht um den blinden Gehorsam des preußischen oder deutschen Volks gegangen. Außerdem hätte sich ihre tradierte Verwaltungskunst durch die ganze deutsche Geschichte bis hin ins „Dritte Reich“ gezogen und selbst dort Spuren hinterlassen. Hitler und dessen Naziregime lobte er als eine Obrigkeit, die wortwörtlich eine „Unzahl echter staatlicher Aufgaben erfüllt“ hätte – ein Satz, der Boudriot später politisch das Genick brechen sollte.
Der Schöpfer der Bestie
Der Dritte aus dem Bunde war Gustav Zerres, ein Zeitungsredakteur vom Rheinischen Merkur. Zerres spürte die Karrierechance und hatte großes Interesse daran, Boudriots zwar zweifellos nazifreundliche, aber immer noch ausdifferenzierte Kritik an Karl Barth mit einem Sturmangriff, mit einem hypokritischen Pamphlet, mit einer hasserfüllten Tirade zu attackieren.
Zerres stellte Gesinnung und Charakter der von Boudriot genannten deutschen Machthaber in Frage: Friedrich der Große habe seine Freunde nach eigener Aussage eiskalt hintergangen. Bismarck soll eigene politische Verbrechen mit den Annexionen Friedrichs gerechtfertigt haben. Und Kaiser Wilhelm II., von Boudriot als intelligenter und missverstandener Herrscher verehrt, skizzierte Zerres in wüsten Strichen als gnadenlosen Kriegsfanatiker.
Nun. Zerres mag überzeugende Argumente aufgetischt haben im Wortgefecht mit Wilhelm Boudriot. Auch ist an seiner Analyse der Schattenseiten dieser Männer etwas dran. Aber seine Denunziationen waren eines Journalisten unwürdig: Er prangerte Boudriot als einen „Werwolf Academicus“ an, als letzte Bestie, die von den Nazis kurz vor deren Untergang freigelassen worden war. Und die Universität Mainz diffamierte Zerres als eine Zuchtstätte des Faschismus. Mit dieser Meinung war er nicht allein. So kritisierte ein Kollege Zerres‘ namens Otto Zahn, linker Journalist und Politiker, die Universität für faschistoide Züge, die auf dem Campus und im alltäglichen Betrieb ihr Unwesen trieben. Allerdings ging Zerres mit der Wortwahl „Werwolf Academicus“ und Nazi-Bestiarium zu weit, wie ihm später klar werden sollte.
Wer im Glashaus sitzt...
Wollte Zerres bei seinen Denunziationen auf die nationalsozialistische Freischärlerbewegung „Werwolf“ anspielen? Boudriot als freigelassene Bestie des untergehenden NS-Regimes zu denunzieren, scheint äußerst fragwürdig zu sein: Boudriot war während des Dritten Reichs Mitglied der oppositionellen Bekennenden Kirche und war deshalb von den Nazis verfolgt worden. Eine Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus lag ihm sicher fern.
Zerres selbst hingegen konnte mit einer Nazivergangenheit aufwarten, die alles von Boudriot Gesagte und Kontroverse in den Schatten stellte. Der Redakteur Dr. Theo Schröter klärte den Uni-Präsidenten über Zerres auf und enthüllte die Ironie: Er selbst hatte Zerres 1938 wegen Vertragsbruch und fehlender Disziplin aus der Redaktion des Duisburger General Anzeigers suspendiert. Wieso? Zerres hatte ihm fehlende Nähe zum Nationalsozialismus unterstellt. Aber die Krönung des Ganzen: Nach dem Krieg unterstellte Zerres Schröter wiederum Nähe zum Nationalsozialismus. Und so schließt sich der Kreis.
Was war Zerres nun? Ein verbitterter Altnazi, der seinen unerfüllten Karrierechancen im NS-Staat hinterher trauerte und die fehlerhafte Politik Hitlers und dessen Nazischergen für den Untergang des „Dritten Reiches“ verantwortlich machte? War er ein zur Demokratie gekehrter, investigativer, linker Journalist mit Leib und Seele, der die Mutmaßung nicht ertragen konnte, dass Boudriot Teile der NS-Vergangenheit verklärte? Oder war Zerres nichts Anderes als ein lupenreiner Opportunist, der nur nach der nächsten Titelstory lechzte, egal, wen er dafür in aller Öffentlichkeit diffamieren und denunzieren musste.
Fakt bleibt: Zerres selbst hatte keine weiße Weste. Wie so mancher eben, der den moralischen Zeigefinger auf andere richtet.
Happy End?
Aber was geschah jetzt eigentlich mit Professor Wilhelm Boudriot? Wir brauchen keinen Cliffhanger und lüften das Geheimnis des „Werwolfs“. Die Offenbarung über Zerres' fragwürdigen Ansichten und Verhaltensweisen vermochten nicht, Boudriot zu helfen. Nicht einmal die tatkräftige Unterstützung einiger evangelischer Institutionen von Rang und Namen. Sie gaben Boudriot zwar das Gefühl, nicht alleine zu sein, das Gefühl, nicht von allen missverstanden zu sein, das Gefühl, den zuständigen Autoritäten nicht völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Aber sie identifizierten sich nicht mit Boudriots Aussagen.
Trotz vielseitiger, angesehener und autoritärer Unterstützung musste Boudriot letztlich seine eigenen Interessen dem Ruf der Universität Mainz unterordnen und wurde suspendiert, formal bestand die Universität aber darauf, dass er seine Lehrtätigkeit (unter Weiterbezug seines Gehalts) ruhen lasse, bis die Angelegenheit abschließend geklärt sei.
Ein dramatisches Urteil für den ehrgeizigen, ideologischen und leidenschaftlichen Intellektuellen, der einen Beitrag zum politischen Zeitgeist und zur theologischen Wissenschaft leisten wollte. Am 23.8.1948 verstarb Wilhelm Boudriot überraschend im Alter von nur 55 Jahren. Nach seinem plötzlichen Tod zeichnete sich ab, dass er wohl bald wieder den Vorlesungsbetrieb hätte aufnehmen können. Deutsche Geschichte ist eben nicht nur kompliziert, sondern auch nicht immer gerecht...
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Marvin Mikow ist Student der Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und schrieb diesen Artikel im Rahmen der Übung „Archivnutzung für Historikerinnen und Historiker“.