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Universitätsbibliothek Mainz

31.10.2019

Das geheime Tagebuch einer Archivmitarbeiterin

Jedes Jahr am Vorabend zu Allerheiligen steigen die Toten zur Tag- und Nachtgleiche aus dem Jenseits hervor. Wenn der Schleier zwischen den Welten durchlässig wird, suchen sie die Lebenden heim. Die Schatten hängen tief, die Geister gehen um. Halloween! Ein Grund auch einmal im Universitätsarchiv nach Geistern aus der Vergangenheit zu suchen. Lest hier, welche interessanten Funde die nicht ganz so tote Universitätsgeschichte liefert.

Als ich vor gut fünf Jahren im Archiv zu arbeiten anfing, ahnte ich noch nicht, welche gruseligen Überraschungen eine staubige Papiersammlung für einen mit allen Wassern gewaschenen Archivar bereithalten kann. Als ausgebildete Archäologin, hatte ich bereits an Grabungen teilgenommen, bei denen Skelette und andere gruselige Dinge aus der Erde kamen. Also dachte ich mir nicht viel, während ich meine Bewerbung verfasste und das Bewerbungsgespräch erfolgreich hinter mich brachte. Ich ahnte auch nichts, als mir mein Chef Christian George meinen neuen Arbeitsplatz im Magazinkellerraum des Alten Rewis zeigte und nur lapidar auf den jahrzehntealten Staub auf der ein oder anderen Akte hinwies. Aber, wie es nun mal so ist, sollte es anders kommen…

Alles braucht einen Namen, manches sogar zwei

Neben den gelegentlichen menschlichen Besuchern bekam ich schnell weitere Gesellschaft durch Silber- bzw. Papierfischchen, die für mich keineswegs gruselig sind. Beim Verpacken und verzeichnen von Akten kann man leicht in einen fokussierten Arbeitswahn verfallen, der aber schlecht für die Wahrnehmung der Umgebung ist. Wenn man nichts ahnend gerade eine Akte entgrätet (so nennen das die Archivare, wenn sie die Tackernadeln entfernen) und sie fein säuberlich in hellblaue Mappen abheftet, ist es möglich, plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen. Ursache für meinen hektischen Tanz war eine riesige, schwarze Spinne, die sich in aller Seelenruhe von der benachbarten Regalreihe auf meinen Schreibtisch hinabließ. Nachdem ich mich einigermaßen von dem Schock erholt hatte, schnappte ich mir eine Tasse und ein Blatt, um das achtbeinige Monster nach draußen in die Freiheit zu entlassen. Als ich diese Geschichte meinem Chef erzählte und darauf baute, beim nächsten Mal von ihm bei der Umsiedlung von Magazinbewohnern unterstützt zu werden, wurde ich enttäuscht. Denn er hatte anscheinend eine noch größere Abneigung gegen Arachnidae als ich entwickelt. Also musste ich mich meinen Gegnern alleine stellen, was sich als weniger furchteinflößend herausstellte, als gedacht. Ich verfuhr nämlich nach folgendem Motto: „Gib etwas einen Namen und du brauchst keine Angst mehr davor zu haben.“ Fortan nannte ich alle großen, schwarzen Spinnen Rüdiger und die kleinen quirligen seine Freunde. Ich muss sagen, das hat wirklich geholfen.

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Doch konnte mich das nicht auf Karl-Heinz vorbereiten. Ich befand mich gerade wieder in besagtem Arbeitswahn, als ich aus dem Augenwinkel etwas den Gang zwischen den Regalreihen hinunter wuseln sah. Es war schnell, hatte zu meinem Unbehagen mehr als acht Beine und, verglichen zu meinen Spinnenfreunden, war es etwa fünfmal so groß. In nicht mal vier Sekunden war es bei mir und wollte sich unter meinem Schreibtisch häuslich einrichten. Nachdem ich es geschafft hatte, meinen Puls herunter- und mein Gehirn hochzufahren, packte ich einen Besen und vertrieb das Ding von meinem Arbeitsplatz. Nach kurzer Internetrecherche stellte es sich als Spinnenläufer heraus. Ein aus Südeuropa kommender, Kerbtiere liebender Hundertfüßer, dessen Bisse schmerzhaft sein können (rechts im Bild eine Spinnenläufermumie). Mit einer Größe von circa zehn Zentimeter war mein Karl-Heinz – denn bei der Größe braucht man schon zwei Namen – ein fast ausgewachsenes Exemplar. Zuerst wollte mir niemand glauben, dass so etwas in unserem kleinen, beschaulichen Archiv existieren konnte. Bis auch mein Chef in meiner Gegenwart eine Akte aushob und ein etwas kleinerer Vertreter aus dem Karton krabbelte. Seitdem bin ich immer vorsichtig, wenn ich einen Karton aus diesem Archivraum öffne.

Blut, Schweiß und Gehirne

Neben diesen lebenden Gruselexponaten hat das Archiv aber auch noch Bestände mit unheimlichem Inhalt zu bieten. Denn anders als die guten, alten Akten der Geistes- und Naturwissenschaften sowie der Universitätsverwaltung sind die Akten des Pathologischen Instituts nichts für schwache Nerven. Es gibt zwar auch Unterlagen zu lustigen Selbstversuchen mit Mitteln, die dafür sorgen sollten, den Blutalkoholspiegel zu senken und damit das Autofahren auch unter Alkoholeinfluss zu ermöglichen. Noch skurriler sind die psychologischen Gutachten mit den dazugehörigen Tests. Der Bestand sparte aber auch nicht mit Schauermomenten. Ich bin bis heute dankbar für die Einweghandschuhe, auch wenn meine Hände regelmäßig in Schweiß ertranken.

Einerseits war mir klar, dass in den Sektionsberichten allerlei eklige Beschreibungen von Obduktionen und Tatortfotos zu finden sind. Andererseits bereitete mich nichts auf die Aufnahmen der Gehirne Verstorbener vor, die beilagen. Diese waren nicht nur fotografiert, sondern auch zusätzlich vorher noch in Scheiben geschnitten worden. Neben diesen Berichten fanden sich auch Blutuntersuchungsberichte, an denen sich bereits die Mäuse gütlich getan hatten, im Bestand. Die damaligen Mitarbeiter hatten nicht nur ihren Bericht archiviert, sondern auch die jeweiligen gebrauchten Objektträger der Patienten mitabgeheftet. Da saß ich nun mit meterweise Akten und darin zum Teil stark zersplitterter Glasplättchen mit Blut dran. Es gab Tage, da war das Arbeiten kein Zucker schlecken und ganz gewiss nicht langweilig. Das Verpacken dieser Akten hat mir alles abverlangt und ich habe großen Respekt vor allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Krankenhausarchiven.

Von Mumien und flauschigen Vampiren

Aber ich ging gerne an meinen Arbeitsplatz im Magazinkellerraum. Immer, wenn ich die Tür nach dem Wochenende öffnete, kam mir dieser unverkennbare Geruch nach altem Papier und Staub entgegen. L‘Odeur de la Momie, wie ich es heute nenne, ist für mich noch immer heimelig. Neben Aktenleichen kann man auch andere, nach peruanischer Art luftgetrocknete Mumien in den Kellerräumen finden. Zuerst dachte ich, die einzigen Leichen, die sich im Archiv befinden, sind Insekten und Spinnen. Doch fand ich in einem benachbarten Kellerraum bei der Sicherung von Akten eine Rattenmumie. Glücklicherweise hat der Magazinraum kein Problem mit Nagern.

Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich glaubte, dass die geisteswissenschaftlichen Bestände in unserem Archiv kein Grauen enthalten können. Wie falsch ich doch lag. Beim Umbetten des Bestandes der Romanistik sollte ich mein blaues beziehungsweise schwarzes Wunder erleben. Ein Professor für Rumänisch hielt 1987/88 auswärts einen Vortrag zum Thema Mythen um Dracula. Nach diesem kam er mit einem Zuhörer ins Gespräch. Beide mussten eine rege Unterhaltung über Vampirismus geführt haben. Jedenfalls hatten sie zu meinem Leidwesen danach noch Briefkontakt. Der Vortragsteilnehmer schickte dem Professor als Anspielung auf einen Witz eine getrocknete Fledermaus, was der Professor mit sogar großer Freude aufnahm. Das kleine schwarze Flauschknäul wurde indes tatsächlich von der Sekretärin in einem braunen Umschlag abgeheftet und befindet sich noch heute im Bestand, wo ich die Mumie fand und verpacken musste. Natürlich hatte ich an diesem Tag meine Handschuhe vergessen.

Ihr seht also, dass die Arbeit im Uniarchiv weder eintönig noch langweilig ist. Denn wenn man den Archivraum verlässt, das Licht ausmacht und die Tür verschließt, beginnt es in den Akten zu rascheln, Fühler strecken ihre Spitzen aus den Kartons und zahllose Beine huschen über die dunklen Gänge zwischen den Regalreihen.

Julia Tietz
Julia Tietz

Julia Tietz ist Doktorandin der Klassischen Archäologie, ehemalige Mitarbeiterin im Universitätsarchiv und zur Zeit Wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt Festschrift 75-Jahrfeier der JGU.