Kaum ein Jahr der jüngeren US-Geschichte war so turbulent wie 2020: Vom Impeachment-Verfahren gegen Trump, dessen Umgang mit der Corona-Pandemie, dem Tod der beiden Bürgerrechtsikonen John Lewis und Ruth Bader Ginsburg bis hin zu den sozialen Unruhen und Protesten der Black Lives Matter-Bewegung sowie der Wahl Joe Bidens zum 46. Präsidenten. Die USA, ein Kompass ohne Norden? Die USA-Bibliothek bietet seit 25 Jahren Orientierung im wilden Westen, quellenreich und fächerübergreifend.
Ich geb’s zu: Die amerikanische Politik ist meine Obsession. Es fing mit Stephen Colbert an, als dieser noch nicht der neue David Letterman war, gefolgt von John Olivers Last Week Tonight. Vor zwei Jahren empfahl mir dann eine Freundin Pod Save America von den Crooked Media-Leuten, ehemalige Mitarbeiter von Barack Obama. Der Podcast reichte mir bald aber auch nicht mehr aus. So verfolgte ich täglich die Debatten in den sozialen Medien, schaute die Berichterstattung amerikanischer Nachrichtensender und fing während des Amtsenthebungsverfahrens sogar an, CSPAN – das amerikanische Phoenix – zu schauen.
When in doubt, go to the library! (Hermine Granger)
Wenn die Nachrichten sich aus den Vereinigten Staaten mal wieder überschlagen und man sich nach Orientierung und Hintergrundwissen sehnt, ist die USA-Bibliothek der UB die erste Adresse. Und sie liegt mitten auf dem Campus im Georg Forster-Gebäude. Seit ihrer Eröffnung am 20. November 1995 gehört sie zu den führenden deutschen Bibliotheken zum Thema USA. In ihrem Bestand finden sich rund 80.000 Bücher, zahlreiche E-Books, Zeitungen und Zeitschriften sowie Datenbanken.
Um Eilmeldungen und Diskussionen in den sozialen Medien einzuordnen, helfen zwei der zentralen Tageszeitungen, The New York Times und die The Washington Post, die beide online zugänglich sind. Aber auch in den digitalen Ausgaben wichtiger populärer Zeitschriften wie das Time Magazine, National Geographics oder dem New Yorker könnt ihr stöbern. Genauso wie in Aufsätzen und Büchern, die ein Licht auf all die Phänomene und Stichwörter werfen, welche uns im politischen Zirkus tagtäglich um die Ohren flattern. Beim Spaziergang durch die USA-Bibliothek treffen die Schlagzeilen auf die passende Hintergrundliteratur.
You are fired! (Donald J. Trump)
Ab dem 3. November lief der Wahlkrimi der besonderen Art in Endlosschleife: 90 Stunden dauerte es, bis die amerikanischen Medien proklamierten: Mr. Trump, „you are fired“ , Joe Biden ist der neue President Elect. Trotz der 50 vereinigten Staaten spielen bei den Präsidentschaftswahlen immer nur eine Handvoll Swing States das Zünglein an der Waage. Dieses Mal lag der Fokus vor allem auf Michigan, Wisconsin und Pennsylvania. Biden eroberte Obamas sogenannte Blue Wall im Nordosten zurück, nachdem die Staaten sich 2016 für Donald Trump ausgesprochen hatten.
Erstmals seit 1992 stimmten auch die Wählerinnen und Wähler aus Georgia für einen demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Dieser Erfolg lag nicht zuletzt an Stacy Abrams‘ Organisation Fair Fight, die der Wählerunterdrückung den Kampf ansagt. Nachdem sie im Rennen um das Gouverneursamt in Georgia knapp verloren hatte, rief die Demokratin die Organisation 2018 ins Leben. Erste wissenschaftliche Aufsätze zu Fair Fight finden sich in der interdisziplinären Datenbank ProQuest, die im Uninetzwerk zur Verfügung steht. Nichtsdestotrotz: Das amerikanische Wahlsystem ist und bleibt eine Wissenschaft für sich – ob Super Tuesday oder Swing States – die Bestände der USA-Bibliothek helfen Licht ins Dunkel zu bringen.
It is what it is. (Donald J. Trump)
Einer der Gründe, warum es dieses Mal mit der Auszählung besonders lange dauert: Wegen der Corona-Krise hatte ein Großteil der Wählerinnen und Wähler ihre Kreuze vorab gesetzt. Diese Stimmzettel durften jedoch in einigen Staaten erst ab dem 3. November ausgezählt werden. Das alles lag nicht zuletzt am Umgang Trumps mit dem Virus. Laut seinen Aussagen im Frühjahr würde er „einfach verschwinden“. Dem war aber nicht so: Die Pandemie traf die USA so schwer wie kaum ein anderes Industrieland.
Auch als der Präsident Anfang Oktober selbst an Covid-19 erkrankte, führte dies nicht zu einem Sinneswandel. Aber nicht nur das: Eine Untersuchung der Cornell Universität hat festgestellt, dass im englischsprachigen Raum fast 38 Prozent der „Fake News“ rund um Corona auf Trump zurückzuführen sind. Sein Verhalten hat jedoch noch weit gravierendere Folgen: Laut einer Studie der Universität Stanford sollen seine Wahlkampfveranstaltungen zu rund 30.000 Infektionen und bis zu 700 Toten geführt haben, aber wie sagte Trump so schön: „It is what it is.“
Auch zum Krisenmanagement des Präsidenten in Zeiten der Pandemie gibt es erste Veröffentlichungen. Beispielsweise das jüngst erschienene Buch Rage des Journalisten Bob Woodward, in dem er seine Interviews mit Trump bezüglich der Corona-Krise festgehalten hat. Rage sowie zahlreiche weitere seiner Werke finden sich ebenfalls in der USA-Bibliothek. Darunter All The President’s Men, in dem er gemeinsam mit Carl Bernstein die Hintergründe der Watergate Affäre aufdeckte. Der Abhörskandal hatte in den 1970ern zu Richard Nixons Rücktritt geführt.
There is always a Tweet
Während die ersten ausländischen Staatsoberhäupter Biden zur Wahl gratuliert haben, hat Trump seine Niederlage bisher nicht eingestanden – obwohl sogar sein Lieblingsfernsehsender Fox News den Wahlsieg der Demokraten bestätigt hat. Stattdessen sieht sich der amtierende Präsident als Sieger, spricht von systematischer Wahlmanipulation auf Twitter, weshalb die Plattform eine Vielzahl seiner Tweets als „Fake News“ markiert. Trump droht mit Klagen und ist der Überzeugung, dass nicht das Electoral College, sondern der Supreme Court die Wahl entscheiden wird. Am Obersten Gerichtshof haben die konservativen Richterinnen und Richter seit Ende Oktober eine klare Mehrheit.
Wenige Tage vor der Wahl wurde die konservative Amy Coney Barett zur neuen Richterin ernannt. Ein Novum in der US-amerikanischen Geschichte: Nie zuvor wurde nur eine Woche vor einer Präsidentschaftswahl eine Berufung vorgenommen. Coney Barett nahm den Platz der im September verstorbenen Ruth Bader Ginsburg ein, deren letzter Wunsch es gewesen war, die Besetzung erst nach den Wahlen vorzunehmen. Die erste jüdische Richterin des Supreme Courts hatte sich besonders im liberalen Lager in den vergangenen Jahren zur Bürgerrechtsikone schlecht hin entwickelt, weil sie sich unter anderem für Frauenrechte oder die gleichgeschlechtliche Ehe einsetzte.
The Good Trouble: Von der Edmund Pettus Bridge zum Black Lives Matter Plaza
Aber The Notorious RBG war nicht die einzige Bürgerrechtsikone, um die Amerika dieses Jahr trauert. Im Juli verstarb der demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus John Lewis. Lewis war einer der Ikonen der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. 1965 organisierte er die afro-amerikanischen Proteste der Civil Rights Movement in Selma, Alabama. Die Selma to Montgomery Marches bildeten den Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. Kurz darauf wurde der Voting Rights Act verabschiedet, das die Gleichberechtigung Schwarzer Wählerinnen und Wähler gewährleisten sollte.
Auch 2020 gingen viele Amerikanerinnen und Amerikaner auf die Straße. Nach den brutalen Polizeimorden von Brianna Taylor und George Floyd mobilisierte sich die Black Lives Matter Bewegung erneut, um gegen systemischen Rassismus zu protestieren. Welche Bedeutung John Lewis für die schwarze Bürgerrechtsbewegung hat, machte zuletzt Kamala Harris in ihrer Antrittsrede deutlich. Die zukünftige Vizepräsidentin eröffnete ihre Ansprache mit einem Zitat von Lewis. Harris wird nicht nur die erste Frau im Oval Office sein, sondern auch die erste Woman of Color. Definitiv ein Grund zu feiern, zum Beispiel mit einem saftigen Philly Cheese Steak, das Lieblingsgericht ihres Running Mate Joe Biden.
The American Way of Reading
Kochrezepte gehören zugegebenermaßen nicht zu den Sammlungsschwerpunkten einer wissenschaftlichen Bibliothek. Aber wer suchet, der findet: Statt einem Philly Cheese Steak schlummert in der Rubrik „Home and Family Management“ ein wenig amerikanische Kulinarik. Warum sich auch Kochrezepte im GFG finden, liegt an der Vorgeschichte der USA-Bibliothek. Ihr Bestand war eine Stiftung der Air Force, die 1993 Camp Lindsey in Wiesbaden – dem heutigen Europa-Viertel – schloss und ihre Bibliothek der UB Mainz vermachte. Seit 1945 hatten sie die dort stationierten Militärs und ihre Angehörige mit Literatur versorgt. Und so fanden die Mainzer Bibliothekarinnen und Bibliothekare beim Auspacken der unzähligen Umzugskisten auch Krimis und Kochbücher.
Die Lindsey Camp Library bereitete die Militärs außerdem auf eine zivile Laufbahn vor und unterstützte deren Studium – zum Beispiel dem der Sozialwissenschaften. Auch heute noch sind die Sozialwissenschaften neben Kultur und Geschichte einer der Schwerpunkte der USA-Bibliothek. Wer sich jetzt fragt, was die Expats damals eigentlich so gelesen haben: Beim Schlendern durch die Regale wird das auf den ersten Blick sofort klar. Die ursprünglichen Bestände haben weiße Aufkleber und die seit 1995 dazugekommenen Werke blaue. Auch die vielleicht etwas ungewöhnlich anmutenden Signaturen, die sich aus langen Zahlenkombinationen zusammensetzen, stammen aus der Wiesbadener Zeit. Sie beruhen auf der Dewey Decimal Classification (DDC), anhand der die meisten Bibliotheken in den Vereinigten Staaten aufgestellt sind. Wer einmal versucht hat, deren Tiefen zu ergründen, ist mit allen bibliothekarischen Wassern gewaschen.
Don’t You Forget About Me
Die Entstehungsgeschichte der USA-Bibliothek ist somit nicht zuletzt ein Indikator für die transatlantischen Beziehungen: Während man in den 90er-Jahren trotz der Schließung der Wiesbadener Air Base ein Stück der amerikanischen Kultur zurücklassen wollte, erfuhr die deutsche Politik 2020 ziemlich überraschend aus den Medien von dem Abzug von rund 12.000 amerikanischen Soldatinnen und Soldaten.
Welche Auswirkungen hat Trumps Präsidentschaft auf das deutsch-amerikanische Verhältnis? Ob die Antwort in den Beständen der USA-Bibliothek schlummert, ergründet Ihr am besten selbst.
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Stefanie Martin arbeitet in der Bereichsbibliothek MIN.