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Universitätsbibliothek Mainz

08.06.2021

Die Nicht-Vorgesehenen

Sie sind mitten unter uns. Auf dem Campus, im Hörsaal, auf Zoom, in der Mensa, beim Unisport, im Wohnheim, am Rhein. Auch Ihr seid ihnen sicherlich schon begegnet, habt Euch im Seminarraum mit ihnen unterhalten und in der Bibliothek neben ihnen gesessen. Erstakademikerinnen und Erstakademiker, eine kleine, unscheinbare Gruppe von Studierenden, die als erste in ihrer Familie studieren. Sie fügen sich perfekt in den Unialltag ein, und das, obwohl sie dort nicht vorgesehen sind.

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Wir schreiben das Jahr 2013 – irgendwann im Oktober. Am Mainzer Hauptbahnhof steige ich in die Buslinie 64 und obwohl sich mir einige freie Sitzplätze im hinteren Teil des Busses bieten, ziehe ich es vor, mich dem dichten Menschengedränge rund um die Bustüren auszusetzen und vollgestopfte Taschen, Rucksäcke und Ordner von allen Seiten in die Rippen gestoßen zu bekommen. „Egal“, denke ich, „Hauptsache, ich schaffe es rechtzeitig zur Türe, wenn ich da bin.“ „Nächster Halt: Universität“, gerade will ich meiner Vorderfrau auf die Schulter tippen, damit sie mich vorbeilässt, da setzt sich die Menschentraube auch schon in Bewegung und presst sich durch alle drei Türen des Gelenkbusses. Ich mittendrin.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spüre, zupfe ich erst mal verdutzt mein T-Shirt zurecht. Als allererste Studentin in meiner Familie, an meinem allerersten Unitag, hatte ich mich so einsam gefühlt, dass ich doch tatsächlich davon ausgegangen war, die Einzige zu sein, die hier aussteigen würde.

So oder so ähnlich ging es sicherlich vielen Erstakademikerinnen und Erstakademikern zum Studienstart. Während das Studium für alle ein aufregender Lebensabschnitt ist, stellt es gerade Erstakademikerinnen und Erstakademiker vor riesige und ganz spezielle Herausforderungen. Warum? Die Universitäten sind schlichtweg nicht auf ihre Bedürfnisse vorbereitet. Die OECD attestiert Deutschland immer wieder mangelnde Chancengerechtigkeit und Bildungsmobilität. Obwohl immer mehr Menschen studieren, ist diese spezielle Gruppe von Studierenden im Universitätsbetrieb nach wie vor eine Minderheit.

Der Hochschulbildungsreport 2020 spricht ebenfalls eine klare Sprache: In Deutschland hat die Bildung der Eltern einen enormen Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder. Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben nur etwa halb so viele Kinder aus Familien ohne Hochschulerfahrung wie jene, deren Eltern selbst studiert haben. Nach dem Studienbeginn werden die Prognosen noch düsterer: Gerade mal acht von 100 erwerben einen Masterabschluss, davon nur eines den Doktortitel. Da scheint etwas nicht rund zu laufen im Land des BaföGs, der Schulpflicht und des grundgesetzlich gesicherten Rechts auf Bildung.

Studieren an der JGU ohne Hochschulerfahrung in der Familie – darüber habe ich mich mit einigen Erstakademikerinnen und Erstakademikern unterhalten. Ich wollte wissen: Wie fühlen sie sich an unserer Universität? Was bereitet ihnen Schwierigkeiten? Wo sind sie klar im Vorteil? Inwiefern bereichern sie die JGU? Studieren ohne Hochschulerfahrung in der Familie – Ist es das Risiko wert? Spoiler für Euch, liebe Ersti- Erstakademikerinnen und Erstakademiker: Ja, es geht! Allen Widrigkeiten zum Trotz seid Ihr an der JGU genau richtig!

Die Bessermacherin: Jacqueline-Christine Brosch (Deutsch und Philosophie auf Lehramt)

In meiner E-Mail an potenzielle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner schreibe ich: „Für einen Artikel für das Online-Magazin der Universitätsbibliothek bin ich auf der Suche nach Personen, die als ErstakademikerInnen an der JGU eingeschrieben sind. “Erstakademikerinnen und Erstakademiker“ – mit diesem Begriff kann Jacqueline nicht so viel anfangen, das klinge so hochgestochen.

langsamer Aufstieg„Ich bevorzuge Bildungsaufsteigerin.“ Dieses Wort begleitet sie schon ihre gesamte Schulzeit über, denn Jackie, wie sie sich selbst nennt, hat nicht die klassische Laufbahn auf dem Weg zum Studium zurückgelegt: „Ich war erst auf der Haupt-, dann auf der Realschule. Und für die Oberstufe bin ich dann aufs Gymnasium gewechselt. Immer wenn die Lehrkräfte davon erfahren haben, wurde mir gesagt: ‚Ah, du bist eine Bildungsaufsteigerin!‘“

Traumberuf Lehrerin: Nicht ohne einen Uniabschluss

Die Studentin verrät mir, dass sie schon als Kind wusste: Ich will Lehrerin werden. Daher sei es für sie klar gewesen, dass sie studieren müsse. Ihre Familie hingegen sei alles andere als begeistert gewesen und habe ihr vom Studium abgeraten: Denn egal, welchen der vielen Begriffe – Erstakademikerin, Bildungsaufsteigerin, Studentin ohne Hochschulerfahrung, First Generation, Studien-Pionierin, Arbeiterkind – man wählt, Jacqueline ist die erste in ihrer Familie, die studiert. „Meine Familie ist sehr altmodisch. Die Frauen sind Erzieherinnen oder Altenpflegerinnen und die Männer sind in handwerklichen Berufen tätig.“

Die angehende Lehrerin ließ sich aber nicht beirren. Nach dem Abitur arbeitete sie erstmal ein Jahr lang auf 450 Euro Basis, um sich den Umzug und den ersten Semesterbeitrag an der JGU leisten zu können. Obwohl sie sich mit der Einschreibung einen Kindheitstraum erfüllt hatte und ihre Motivation dementsprechend hoch war, wollte es mit dem Unistoff nicht so richtig klappen. „Ich war mit allem überfordert. Ich habe auch mein ursprüngliches Fach Englisch abgegeben, weil ich nicht wusste, wie ich das verpflichtende Auslandssemester finanzieren sollte und ob ich mich das trauen würde. Nach dem ersten Semester wurde es besser, weil ich eine Person kennengelernt habe, die bemerkt hat, dass ich nicht klarkomme. Sie hat mir unter die Arme gegriffen.“

Das stellte sich als Glücksfall heraus, denn Jackie gesteht mir: „Ich bin damit aufgewachsen, dass man nur nach Hilfe fragt, wenn die Kacke wirklich am Dampfen ist und das war sie noch nicht. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob eine Beratungsstelle, die speziell auf die Bedürfnisse von Erstakademikerinnen und Erstakademikern zugeschnitten ist, von diesen Studierenden überhaupt angenommen werden würde.“ Zugeben zu müssen, dass man die erste Person in der Familie ist, die studiert, dürfte einige abschrecken!

Auch wenn das Studium ihr nach dem ersten Semester einfacher von der Hand ging, lässt sie das Bewusstsein, Bildungsaufsteigerin zu sein, nie komplett los. Im Allgemeinen läge das an dem Gefühl, alle anderen seien deutlich weiter, weil man vieles in der Schule nicht mitbekommen habe. Insbesondere im Falle von Menschen, die wie sie nicht die gesamte Schullaufbahn auf dem Gymnasium verbracht und selbstständig ziemlich viel nachholen müssen.

Die unbequeme Stimme

„Zusätzlich ist es im Lehramt sehr extrem. Der Blickwinkel ist immer sehr einseitig. Man achtet sehr aufs Gymnasium, man geht davon aus, dass Schüler grundsätzlich von Anfang an aufs Gymnasium gegangen sind. Wenn ich das anspreche, ecke ich damit bei Dozenten an. Ich habe einen anderen Blickwinkel und versuche den anderen bewusst zu machen, dass es Leute wie mich gibt, die nachträglich aufs Gymnasium kommen. Die bildungswissenschaftlichen Veranstaltungen, die das ansprechen, tun das auf eine sehr realitätsferne Art und Weise. Die Dozenten kommen meist selbst aus Akademikerfamilien und haben die klassische Schullaufbahn durchlaufen. Daher wird das sehr einseitig dargestellt oder verklärt.“

Studierende ohne akademisches Elternhaus sind eine Minderheit an deutschen Universitäten. Es ist also anstrengend, sich aus dieser Position heraus Gehör für die eigenen Erfahrungen, Schwierigkeiten und Bedürfnisse zu schaffen. Bildungseinrichtungen sollten eigentlich ein Ort des Austauschs sein, die Gesellschaft sollte hier möglichst breit vertreten sein. Solange dem nicht so ist, werden Stimmen wie die von Jacqueline immer „anecken“. Sie erzählt mir auch von den unterschiedlichen Reaktionen, die ihre Einwände bei Kommilitoninnen und Kommilitonen hervorrufen: „Es gibt jene, die mich mittlerweile aus den Veranstaltungen kennen und nur noch genervt schauen. Dann gibt es die Interessierten, aber auch die, die die Augen verschließen und mir sagen, ich sei nur ein Einzelfall.“

Die Studentin ist sich sicher, dass sie das nicht ist. „Ich spreche offen darüber. Auch weil mich das Thema Schule und Schulisches einfach interessiert. Aber das können nicht alle. Es handelt sich um ein sehr schambehaftetes Thema – nicht nur seitens der Leute, die aus der sozialen Unterschicht kommen, sondern auch für Menschen mit klassischem Werdegang. Sie schauen dann beschämt weg, weil sie sich das nicht vorstellen können oder wollen.“

Auf meine Nachfrage, inwiefern sich ihr Verständnis vom Lehramt aufgrund ihres eigenen Schulwerdegangs von dem ihrer Mitstudierenden unterscheide, zögert Jackie das erste Mal im Gespräch. „Um darauf zu antworten, müsste ich sehr verallgemeinern… Ich denke, bei vielen ist der Blick weniger differenziert. Sie sehen Schüler häufiger als homogene Masse oder homogener als ich das tue.“

Auch wenn Jacqueline in ihrem ersten Semester selbst keine Hilfe in Anspruch genommen hat, appelliert sie am Ende unseres Austauschs an die neuen Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger, an so vielen Einführungsveranstaltungen wie nur möglich teilzunehmen, um zurecht zu kommen und alles kennenzulernen. Ihr selbst hätte das sicher eine Menge erspart, grübelt sie. Heute schaut Jackie aber nicht in die Vergangenheit, sondern nach vorne. Sie steht kurz vor dem Bachelorabschluss und plant, auch ihren Master in Mainz zu machen. Ein universitätsmäßiger Tapetenwechsel kommt für sie nicht in Frage: „Ich bleibe da, wo ich mich auskenne“, lacht sie.

Der Engagierte: Markus Vieth (Naturwissenschaftliche Informatik mit Schwerpunkt Experimentalphysik)

Auf die Frage hin, im wievielten Semester er sich befindet, muss Markus Vieth erstmal rechnen. „Ich bin jetzt im 15., nein, 16. Semester. Auf jeden Fall bin ich jetzt am Ende des Masters.“ Wenn also jemand über den universitären Kosmos Bescheid weiß, dann er. Aber das war nicht immer so.

InformatikstudentMarkus ist der erste in seiner Familie, der studiert. „Die Universität kannte ich damals nur aus Fernsehsendungen und damit meine ich nicht die seriösen.“ Heute ist der Informatiker in so gut wie jedem studentischen Gremium vertreten und erinnert in den zahlreichen Sitzungen seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter gerne daran, dass das Studium alles andere als eine Selbstverständlichkeit für eine gewisse Gruppe von Studierenden ist.

Nebenfach: Aufklärarbeit

„Dass die finanzielle Lage oder die persönliche Ausstattung passt, dass alle eine Vorstellung davon haben, wie die universitäre Lehre funktioniert, wird so oft implizit vorausgesetzt. Deswegen bin ich in den ganzen Gremien, um zu sagen: ‚Hey, Moment, das muss hürdenlos, mittellos umsetzbar sein. Es geht nicht … Sie können nicht einfach hingehen und sagen, ja, diese Person hat nicht genug Geld für ein Studium an der Uni Mainz.‘“ Sein Engagement ist für Markus aber nicht nur eine Möglichkeit, seine Mitmenschen für das Thema Akademikerinnen und Akademiker der ersten Generation zu sensibilisieren, sondern es ermöglichte ihm auch, sich in der ihm fremden Universitätswelt zurecht zu finden.

„Das erste Semester war sehr anstrengend. Ich habe damals versucht, den Ratschlag meines einzigen Ansprechpartners, einem Schullehrer, zu befolgen. Er hatte mir dringlichst dazu geraten, neben Informatikkursen auch geisteswissenschaftliche Seminare zu besuchen. Als Ausgleich. Aber das ging zeitlich einfach gar nicht. Dass er vom Lehramtsstudium gesprochen hatte, war mir natürlich nicht klar. Ich kannte nicht mal den Unterschied zwischen einem B.A. und einem B.Sc.“

Auch der Studienalltag war ganz anders, als es ihm Fernsehsendungen vermittelt hatten. Statt viel Freiheit und Flexibilität erwartete ihn klassischer Frontalunterricht. Das Vorurteil vom faulen Studi wollte sich ebenfalls nicht bewahrheiten: „Vor dem Studienstart hatte ich das mit der Leistungsorientierung vieler Kommilitoninnen und Kommilitonen gar nicht auf dem Schirm. Darunter hat leider auch der Austausch untereinander gelitten“.

So richtig Anschluss fand er im zweiten Semester als Markus begann, in der Fachschaft mitzuarbeiten. Zunächst verfolgte ihn auch hier sein Erstakademikerdasein wie „ein Schatten“. „Ich habe mich manchmal doof gefühlt in Bezug auf einige meiner Annahmen oder Aussagen. Die meisten meiner Mitstudierenden hatten andere Vorerfahrungen und Berührungspunkte mit dem akademischen Betrieb. Mal hatte der Papa im ZDV gearbeitet, mal war der Vater Professor oder gar Lehrstuhlinhaber. Ich stand diesbezüglich auf einer anderen Stufe.“

Dass seine von den Erfahrungen der meisten Studierenden abweichende Perspektive sehr wertvoll ist, zum Beispiel im Fachschaftsrat, ist dem Informatiker bewusst: „Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Situation, die mich geprägt hat. Eine Kommilitonin kam mal bei uns im Fachschaftsraum vorbei, weil sich einige ihrer Kursaufgaben nicht an den Unicomputern bearbeiten ließen. Sie fragte uns, ob wir eine Idee hätten, wie man das Problem lösen könnte. Mein Kollege riet ihr: ‚Ja, dann kauf dir doch einen Laptop.‘“

Vom Straucheln und tauben Ohren

Markus erhält selbst den BAföG- Höchstsatz und weiß daher ganz genau, dass sich „einfach mal einen Laptop kaufen“ für einige keine Option ist. Zwar habe sich in den letzten Jahren schon mehr Bewusstsein dafür entwickelt, aber es sei ein sehr langsamer Prozess, für den man sich unermüdlich einsetzen müsse. „Ich komme gerade aus einer Gremiensitzung, in der wir über die Studieneingangsphase und ihre Gestaltung gesprochen haben. In diesem Zusammenhang habe ich viel von meinen eigenen Erfahrungen als Erstakademiker eingebracht, denn ich bin in meiner Studieneingangsphase ziemlich ins Straucheln gekommen.“

Dabei stoßen Studierende wie Markus aber nicht immer auf offene Ohren: „Manche haben diesen Aha-Moment und erkundigen sich dann auch bei mir, was man tun müsste, um die Uni zu einem inklusiveren Ort zu machen. Aber ich habe auch schon erlebt, dass mit elitärem Gehabe reagiert wird. Nach dem Motto ‚Dann sollen sie sich einen Job suchen‘ oder ‚dann haben sie hier nichts zu suchen‘“.

Davon sollten sich Erstakademikerinnen und Erstakademiker nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil: „Das Beste ist, sich mit Menschen auszutauschen. Dann stellt man fest, dass die Hürden, in eine Community reinzukommen, gar nicht da sind. In meinem zweiten Semester war vieles einfacher, weil ich mich viel in der Fachschaft aufgehalten habe und dort neben persönlichen Kontakten auch ganz praktische Tipps zu Seminaren und Vorlesungen bekommen habe.“

Liebe JGU, tear down this wall!

Markus räumt jedoch ein, dass die Informatik ein dankbarer Studiengang für Menschen aus Familien ohne Hochschulerfahrung sei, weil hier fachliches Vorwissen in vielen Fällen Probleme bereite. Man gewöhne sich schnell falsche Kniffe und Angewohnheiten an, die man sich im Studium nur schwer wieder abtrainieren könne. In den Geistes- und Sozialwissenschaften kann fehlendes Vorwissen schon mal problematischer sein, bestätigt Markus: „Wenn man wie ich nicht über ein klassisches Gymnasium, sondern etwa über eine berufsvermittelnde Schule die Hochschulzugangsberechtigung erworben hat und die Eltern auch nicht an die Uni geschweige denn aufs Gymnasium gegangen sind, dann steht kein Werther im Bücherregal.“

Und das ist auch nicht so wichtig, denn Erstakademikerinnen und Erstakademiker haben mehr zu bieten: Sie bringen mehr Diversität und andere Perspektiven in die Hörsäle und tragen dazu bei, die Universität repräsentativer zu machen. Angesichts der Ängste und Vorbehalte, die viele von ihnen im Studium verspüren, wird das leider oft vergessen. Deshalb appelliert der Erstakademiker, der kurz vor seinem Masterabschluss steht, an die Unineulinge: „Man studiert nicht allein, sondern mindestens mit allen Studis des eigenen Faches, aber eigentlich mit der gesamten Studierendenschaft der JGU! Die Uni ist für mich ein zweites Zuhause geworden. Ja, der Anfang gestaltet sich schwierig, aber ich habe mich super eingelebt. Egal, wie hoch diese Mauer auf Euch jetzt wirken mag, sie ist überwindbar. Ich hoffe, dass die Uni auch für Euch so ein Ort, ein zweites Zuhause wird.“

Die Zwischenweltliche: Larissa Cammarata (Kulturanthropologie/Volkskunde und Kunstgeschichte)

„Es war nicht vorbestimmt, dass ich studieren gehe.“ Und doch studiert Larissa Kulturanthropologie/Volkskunde und Kunstgeschichte mittlerweile schon im sechsten Semester. Wie kam es also dazu?

Right?Nach der Grundschule erhielt sie erstmal eine Realschulempfehlung, womit sie sich zunächst auch wohl fühlte. Aber mit 15 Jahren stand für Larissa eines fest: Sie wollte Psychologin werden. Als sie erfuhr, dass dafür kein Weg an der Universität vorbeiführt, legte sie sich ins Zeug und wechselte bald auf ein Oberstufengymnasium, dass sie mit dem Abitur abschloss. Auch wenn sich die Fächerwahl geändert hat, an ihrem Ziel zu studieren, hatte sich nichts geändert. Ihre Eltern allerdings hegten Zweifel: „Ich musste Überzeugungsarbeit leisten und nicht nur der Gesellschaft, sondern auch meinen Eltern beweisen, dass ich das hinkriege und schaffen kann.“ Ihre Eltern seien sich unsicher gewesen angesichts der finanziellen Last, die ein Studium bedeuten würde, erinnert sich Larissa.

Umzug ohne Möbel

„Für mich war selbstverständlich, BAföG zu beantragen. Aber meinen Eltern gefiel die Idee überhaupt nicht, vom Staat Geld zu verlangen.“ Sie waren überzeugt: „Wir kriegen das auch anders hin.“ Weil beide selbst nicht an der Universität studiert hatten, versuchten sie ihre Tochter mit Ratschlägen zu unterstützen, die sie in ihrem Umfeld aufschnappten oder vom Hörensagen kannten. Zwar erzählt mir Larissa, dass auch sie keinerlei Vorstellung von ihrem zukünftigen Studentinnenleben hatte, aber was die Finanzierung anging, sei sie realistisch an die Sache heran gegangen. Sie habe gewusst, ohne BAföG kein Studium: „Ich konnte mir beim Umzug nicht mal eigene Möbel leisten, deswegen musste ich auch ins Studierendenwohnheim. Das erste, was ich mir in Mainz gesucht habe, war ein Job und nicht soziale Kontakte. Was ist, wenn das BAföG nicht reicht? Oder wenn ich es doch nicht kriege? Diese finanzielle Unsicherheit begleitete mich von Anfang an.“ In der Prekarität sehe sie den größten Unterschied zwischen sich und ihren Mitstudierenden aus Familien mit Hochschulerfahrung. „Während ich mich über meinen Job beklagt habe, der mir nicht genug Zeit zum Lernen ließ, beschwerten sich meine Mitstudierenden darüber, dass sie keine Zeit fürs Feiern hatten.“

Als Erste studieren: Nebenwirkung Hochstaplerinnensyndrom?

Larissa sah sich auch mit anderen Herausforderungen zum Studienbeginn konfrontiert und beschreibt mir sehr bildlich, wie sie ins kalte Wasser geworfen wurde. Gewässer, in denen sie sich nicht auskannte, keinen Kompass hatte, der sie lenken konnte: „Ich musste mich komplett allein durch die Welt navigieren. Ich war fremd in Mainz.“

Aller Anfang ist schwer und das gilt für viele Studierende – aber nicht aus den gleichen Gründen. Larissa berichtet mir davon, dass sie mit Betreten des Campus das Gefühl nicht losließ, es nur durch Zufall an die Universität geschafft zu haben, dass sie eine Ahnung beschlich, dass ihr hart erarbeitetes Abitur hier nichts mehr bedeute und sie schlechter als die anderen sei.

Sie beschreibt damit ein Phänomen, das allgemeinhin als Hochstapler-Syndrom bekannt ist. Damit sind Menschen gemeint, die persönliche Erfolge externen Faktoren zuschreiben: einem glücklichen Zufall oder erfolgreichem Durchmogeln etwa. Ich kann mir gut vorstellen, dass Studierende ohne akademisches Elternhaus besonders davon betroffen sind.

Hat Larissa das Gefühl, ihr Erstakademikerinnenhintergrund habe bei ihrer Wahrnehmung, fehl am Platz zu sein, eine Rolle gespielt? Sie überlegt kurz. „So halb. Das hängt auch mit der Selbstwahrnehmung zusammen. Ich kenne meine Defizite. Ich kann meine Eltern nicht fragen, ob sie mir Hausarbeiten korrigieren können. Das hat bei mir zu dem Gefühl geführt, nicht so gut zu sein, wie meine Kommilitoninnen und Kommilitonen.“

Vielfalt? Gerne, aber bitte nur im Urlaub!

Allein sich an die Universität, ihre Codes und die Menschen zu gewöhnen, kann schon überwältigend für Hochschulpionierinnen und Hochschulpioniere sein, für Larissa ist das aber nicht die einzige Herausforderung: „Ich bin Erstakademikerin mit Migrationshintergrund. Dass äußert sich bei mir vor allem beim Schreiben. Obwohl bei Stellenanzeigen nie ausgeschrieben wird „Wir suchen keine Ausländerin, wir suchen keine Frauen, wir suchen keine Erstakademikerin, habe ich immer das Gefühl, es würde dort stehen. Unterschwellig spüre ich immer den Vorwurf, wieso kannst du nicht perfekt Deutsch schreiben? Italienerinnen und Italiener sind exotische Exponate. In Deutschland fährt man gerne nach Italien in den Urlaub, die Sprache ist beliebt, aber italienische Menschen einstellen ist dann doch noch mal was anderes.“

Ihre Mutter sei erst mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen und habe zwar den Realschulabschluss geschafft, aber aufgrund der anfänglichen Sprachbarrieren habe sie im Unterricht viel Stoff verpasst, was sich heute darin zeige, dass sie sich unter dem Lernstoff ihrer Tochter nichts vorstellen könne. Jetzt, da der Bachelorabschluss näher rückt, wird Larissa aus ihrem Umfeld häufiger mit der Frage konfrontiert: „Und was machst du damit?“ Diese Erwartungshaltung übe einen extremen Druck auf sie aus und auch hier sieht sie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen mit studierten Eltern im Vorteil: „Akademikereltern stehen finanziell besser da, sie können ihre Kinder finanziell absichern und daher stehen die Kinder weniger unter dem Druck, Leistungen zu erbringen, um in der Gesellschaft anzukommen.“

Tabus, Scham und schönes Wetter

Das Voranschreiten im Studium habe aber auch sein Gutes, sie sei jetzt selbstbewusster und kompetenter, wenn es um Fachinhalte gehe. Sie könne ihre eigene Situation mittlerweile auch besser einordnen: „Ich weiß, dass ich nicht so mutig bin wie die anderen. Kennst du das Buch von Anna Mayr? Die Elenden? In einem Abschnitt hat sie mir aus der Seele gesprochen. Sie beschreibt, wie normale Harvard-Studenten, die nicht die 1,0 Überflieger sind, sich nicht trauen, mit ihren Ideen und Fragen an die Profs zu wenden. Beim Lesen habe ich gemerkt, dass das etwas Systematisches ist und nicht nur ich in Mainz mich so fühle.“

Wie auch die anderen Interviewten empfindet Larissa, dass an der JGU viel zu selten über das Thema Studierende ohne akademisches Elternhaus gesprochen wird. Sie könne auch verstehen, dass das für einige ein heikles Thema sei. „Ich selbst fühle mich zwar nicht unwohl bei dem Gedanken, meine Eltern in meine universitäre Welt einzuführen und dass sie darin auffallen würden, aber es wäre für mich ein komisches Gefühl, ihnen zuzugucken, wie sie in dieser Welt nicht klarkommen. Es ist eine komplett andere Welt. Ich stehe da und gehöre irgendwie dazu. Da spielt ein bisschen Scham eine Rolle, man will ja, dass die Eltern diese Welt auch verstehen. Wenn man sieht, wie die studierten Eltern von Kommilitoninnen und Kommilitonen in der Lage sind, sich mit dem Prof inhaltlich auszutauschen, während meine Eltern vielleicht über das schöne Wetter reden würden… Da merkt man, das soziale Geflecht ist ein anderes.“ Larissa befürchtet, durch diese fehlenden Netzwerkmöglichkeiten ihre beruflichen Ziele nicht erreichen zu können. Sie würde gerne in die Politik oder in die Diplomatie gehen und sie ist überzeugt, dass man dort auf diese Netzwerke angewiesen ist.

Für alle Erstakademikerinnen und Erstakademiker, die noch am Anfang ihres Studiums stehen, hat sie einen einfachen Ratschlag: „Habt keine Angst, um Hilfe zu fragen. Scheut Euch nicht davor, einfach beim BAföG-Amt anzurufen und mal nachzufragen, wie man den Antrag auszufüllen hat. Es gibt vielfältige Angebote auch an der Uni, zum Beispiel vom AStA. Und vor allem: auch wenn es zu Beginn schwierig ist, knüpft soziale Kontakte! Am Anfang geht es darum, erstmal Fuß zu fassen an der Uni und in der Stadt. Bei der Fachschaft zwanglos mal mitzumachen, ist eine super Möglichkeit, um Leute kennenzulernen.“

Der Praktiker: Alex Noah Schweitzer (Publizistik und Kulturanthropologie/Volkskunde)

„Und wer soll das bezahlen?“ So oder so ähnlich reagiert das Umfeld von Nichtakademikerinnen und Nichtakademikern in der Regel, wenn man den Wunsch äußert, sich an der Uni einzuschreiben. So auch bei Alex, heute Student im fünften Semester Publizistik mit Nebenfach Kulturanthropologie/Volkskunde.

Alex SchweitzerEr war lange selbst der Meinung: „Das geht nicht als Arbeiterkind. Wie soll ich die Miete, den Semesterbeitrag und die nötigen Lehrmaterialien bezahlen?“ Daher entschied er sich nach dem Abitur, das er am staatlichen Aufbaugymnasium in Alzey abgelegt hatte, erstmal für eine Ausbildung zum Kaufmann für Marketingkommunikation. Hier reifte bei dem Azubi nicht nur der Wunsch heran, „irgendwas mit Medien zu machen“, sondern es auch zu studieren: „Ich finde Bildung einfach gut, ich habe Spaß daran.“ Die Frage nach der Finanzierung aber blieb. Schnell war für ihn klar, dass er nach der Ausbildung als Werkstudent übernommen werden müsste, um sich den Traum vom Publizistikstudium zu verwirklichen. Das schaffte er dann auch.

Geld regiert das Studium

Doch nach der Einschreibung tun sich für Studierende, insbesondere für jene ohne familiäre Hochschulerfahrung, die nächsten Hindernisse auf: „Alles, was ich über die Uni wusste, hatte ich im Austausch mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, die selbst studiert hatten, erfahren. Was da auf mich zukommt, das konnte ich im Vorhinein nicht einschätzen.“ Während seine Kommilitoninnen und Kommilitonen die Fachschaft in der Einführungswoche mit Fragen zum coolsten Campuscafé oder der schönsten Ecke am Rhein gelöchert haben, wollte Alex wissen, ob man Arbeit und Studium überhaupt unter einen Hut bekommt. Wie legt man sich die Kurse so, dass man sowohl fachlich weiterkommt, aber gleichzeitig auch sichergestellt ist, dass die Miete und der Semesterbeitrag bezahlt werden können? Und ein erfülltes Sozialleben, das auch zum Studieren gehören sollte, muss man sich erstmal leisten können. „Ich war erleichtert, als ich von der Fachschaft gehört habe, dass viele Studierende im Fachbereich Werkverträge hätten“, erzählt mir Alex. Und trotzdem begleitet ihn seine prekäre finanzielle Lage im Studium bis heute.

Das sei auch etwas, um das er seine Mitstudis ein wenig beneide: „Ich schäme mich nicht, Erstakademiker zu sein, aber ich bin da schon ein bisschen neidisch, weil viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen nicht arbeiten müssen. Ich würde gern in Richtung Journalismus gehen, da sind Praktika verpflichtend. Die Medienhäuser zahlen aber nichts. Ergo muss ich einen Zeitpunkt im Studium erwischen, wo ich nicht so viel zu tun habe, um nebenher noch arbeiten zu gehen und ein Vollzeitpraktikum zu machen. Viele meiner Freunde bekommen den gleichen Betrag, den ich monatlich verdiene, einfach von ihren Eltern zugesteckt und haben daher die Möglichkeit, an der Börse zu investieren.“

Journalismus reimt sich auf Elitismus

Die deutsche Medienlandschaft muss sich immer wieder vorwerfen lassen, dass Medienschaffende nicht die gesellschaftlichen Realitäten abbilden. In den Redaktionen und Studios des Landes trifft man selten auf Kinder von Facharbeiterinnen und Facharbeitern. Finanzielle Barrieren und fehlendes professionelles Netzwerk spielen bei dieser sozialen Auslese eine zentrale Rolle. Alex bestätigt: „An der Uni kann man fehlende persönliche Beziehungen und Vitamin B vielleicht noch kompensieren, aber im späteren Berufsleben wird das schwer. Als Redaktionsassistent beim ZDF weiß ich, dass viele Stellen nie ausgeschrieben werden, das läuft über Kontakte. Solche Berufschancen bleiben also allen verwehrt, die diese Kontakte nicht haben.“

Mit dem Elitismus der journalistischen Ausbildung setzt man sich am Institut für Publizistik aber kaum auseinander. Dass dieser blinde Fleck sich auch in anderen Bereichen der Uni Mainz zeigt, erzählt mir Alex in unserem Gespräch über Teams. Im Rahmen von Einführungsveranstaltungen oder der Erstiwoche würden die Veranstalterinnen und Veranstalter nicht von der Prämisse ausgehen, dass sich in ihrem Publikum auch Menschen befinden, die in der ersten Generation an einer Universität studieren.

Klassismus: Alles andere als klasse

Umso wertvoller sei da die Gründung des AStA-Referats „Anti-Klassismus“: „Erst in den Sitzungen dieses Referats ist mir bewusst geworden, dass es keine Anlaufstellen für Erstakademikerinnen und Erstakademiker an der JGU gibt. Auch im Austausch mit Mitstudis ist das selten Gesprächsthema. Es gibt also einiges zu tun, aber dafür wurde ja auch das Referat gegründet.“

Für all jene unter Euch, die bei Klassismus an eine Kunstepoche denken: Klassismus, nicht zu verwechseln mit Klassizismus, bezeichnet Unterdrückung aufgrund von sozialer Herkunft. Im Idealfall geht es im anti-klassistischen Aktivismus im Bildungsbereich nicht darum, Erstakademikerinnen und Erstakademiker möglichst reibungslos an das Bildungssystem anzupassen und damit Diskriminierungen zu reproduzieren, sondern Barrieren abzubauen, die sie benachteiligen.

„Es ist total ironisch: Von Klassismus Betroffene haben keine Zeit, sich zu engagieren, weil sie Geld verdienen müssen“, kommentiert Alex und meint damit wahrscheinlich auch sich selbst: Der 24-Jährige wird zwar bald seinen Bachelor abschließen. Wie er seinen Master finanzieren soll, steht noch in den Sternen. Und am Master führt auf dem Weg zum Traumberuf Journalist kein Weg vorbei, wie der Publizistikstudent in einem Seminar herausgefunden hat: Wir haben eine Absolventenbefragung durchgeführt und dabei gesehen, dass über die Hälfte der Befragten einen Masterabschluss besaß.“

Einen Tipp für alle Erstakademikerinnen und Erstakademiker, die sich am Anfang ihres Studiums befinden, hat er trotzdem: „Nicht aufgeben! Man muss sich daran gewöhnen, dass man an der Uni nichts geschenkt bekommt. Die Infos sind da, aber die Studis sollten nicht erwarten, dass sie ins Postfach gespült werden. Eigeninitiative ist gefragt! Wenn du Lust auf Uni und dein Fach hast, dann ist man schnell am oberen Leistungsende.“

Abgesehen von persönlichen Erfolgen ist es für eine Universität unabdingbar, Erstakademikerinnen und Erstakademiker zu unterstützen, denn sie sind wichtig für  Austausch und universitäre Debatten, die den Anspruch haben gesamtgesellschaftlich relevant zu sein.

Auch wenn es für Erstakademikerinnen und Erstakademiker an der Uni nicht leicht ist – alleine seid Ihr hier auf keinen Fall.

Rettungsring an Wand
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Hier noch eine Übersicht von Hilfsangeboten und Beratungsstellen auf einen Blick:

Amt für Ausbildungsförderung (BAföG)

KfW-Studienkredit

Stipendienlotse

Begabtenförderungswerke

Zentrale Studienberatung der JGU

Psychotherapeutische Beratungsstelle der JGU

AStA JGU

AG Antiklassismus

Arbeiterkind Mainz

PS: Insbesondere die Friedrich-Ebert-Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, engagierte Erstakademikerinnen und Erstakademiker während ihres Studiums zu unterstützen und zu fördern. Wenn Ihr Fragen zum Bewerbungsprozess um ein Stipendium bei der Friedrich-Ebert-Stiftung habt, schreibt mir gerne unter F.Yildirim@ub.uni-mainz.de