Diese 1959 in Nigeria veröffentlichte Anthologie mit Original-Serigrafien der österreichischen Künstlerin Susanne Wenger (1915 - 2009) präsentiert Oríkì-Gedichte, die aus dem Yorùbá ins Englische übersetzt wurden. Oríkì sind bis heute im Alltag der Yorùbá allgegenwärtig und bilden ein eigenes literarisches Genre, das wiederum die kleinste Einheit vieler weiterer, traditionell mündlich überlieferter bzw. dargebotener Formen der Oratur darstellt. „Oratur“ ist ein Begriff, der heutzutage in Anlehnung an den Begriff „Literatur“ oft anstelle von „Oralliteratur“ bzw. „oralen Traditionen“ verwendet wird.
Mit Oríkì zelebrieren die Yorùbá Identität: Jemanden mit seinen bzw. ihren Oríkì anzusprechen bedeutet, seine bzw. ihre persönlichen Besonderheiten wahrzunehmen, zu würdigen und lebendig werden zu lassen, aber auch an damit verbundene Privilegien und Verantwortung zu erinnern. Deshalb haben Oríkì auch emotional oft einen hohen Stellenwert. Mit Oríkì evozieren die Yorùbá die Besonderheiten einzelner Menschen, aber auch ganzer Familien, von Gottheiten und Königen ebenso wie von Tieren und Pflanzen oder sogar Nahrung. Oríkì sind oft nicht leicht zu verstehen und voller Anspielungen auf historische Ereignisse oder Anekdoten. Ein bis zwei Verse bilden meist eigene Sinnabschnitte, die immer wieder neu kombiniert werden und je nach Kontext zusätzliche Bedeutung annehmen können.
In ihrer einfachsten Form sind Oríkì, etwas salopp formuliert, eine Art Spitzname, der sich auf bestimmte Merkmale einer Person bezieht, oft in Verbindung mit bestimmten Lebenssitutationen, und dann anstelle des Vornamens verwendet wird. Als ich selbst im Rahmen meiner Promotionsforschung zum ersten Mal in Südwestnigeria unterwegs war, bekam ich sofort den Spitznamen Àjọkẹ́, was wörtlich übersetzt „wir kümmern uns gemeinsam (um dich)“ bedeutet. Jedes Mal, wenn jemand diesen Namen aussprach, wurde damit auch ein warmherziges Versprechen wiederholt, das sich auf meine Situation als Fremde in der Gesellschaft bezog, die in vieler Hinsicht auf die Gastfreundschaft der Menschen vor Ort angewiesen war.
Die ersten Oríkì bekommen Menschen gleich nach der Geburt, und je älter, bekannter und einflussreicher jemand wird, desto mehr Oríkì sammelt er bzw. sie im Laufe des Lebens an. Wenn die Oríkì einer besonders berühmten Persönlichkeit dargeboten werden, endet der Vortrag oft mit der Feststellung, dass der oder die Künstlerin noch bis morgen weitersprechen könnte, um anzudeuten, wie unendlich viel es noch über diese Person zu sagen gäbe.
Entsprechend groß ist die Anzahl von Oríkì, die dem Elefanten als größtem Landsäugetier gewidmet sind. Das in der Anthologie zusammengestellte Gedicht präsentiert nur eine kleine Auswahl dieser Oríkì, die mit ungewöhnlichen und eindrucksvollen Bildern die Größe und Stärke des Elefanten preisen und deutlich machen, welchen Respekt dieser den Menschen einflößt:
Elefant, ein Geist im Busch
Elefant, der Tod bringt
Er schluckt eine ganze Palmfrucht
mitsamt den Dornen.
Er zertrampelt das Gras
mit seinen Mörserbeinen
Wo immer er auch hintritt,
wächst kein Gras mehr.
Er schüttelt einen Mann wie einen Lumpen
und hängt ihn in den Baum.
Mit einer einzigen Hand
reißt er zwei Palmen zu Boden.
Hätte er zwei Hände
risse er den Himmel entzwei.
Ein Elefant ist keine Last für einen alten Mann –
auch nicht für einen jungen.
(Übersetzung aus dem Englischen: Ulla Schild)
Aber auch die äußeren Merkmale und besonderen Eigenarten anderer Tiere, zum Beispiel der verschiedenen Antilopenarten, des Wildschweins, des Leoparden, des Python, der Hyäne oder des afrikanischen Büffels, werden in Oríkì lebendig.
Ähnlich wie in der griechischen oder römischen Mythologie gibt es auch in der Religion der Yorùbá etliche Gottheiten, die sogenannten Òrìṣà, um die sich zahlreiche Geschichten von Liebe, Macht, Neid und Intrigen ranken. Selbstverständlich werden auch diese in Oríkì besungen, sind aber häufig bruchstückhaft und voller kryptischer Anspielungen und deshalb meist sehr schwer verständlich. Zu den bekanntesten Gottheiten gehören Ọbàtálá, der Gott der Schöpfung, Ògún, der Gott des Eisens und der Jagd, Ṣàngó, der Gott von Blitz und Donner, Èṣù, Gott der Straßenkreuzungen und Türen, eine Art Trickster-Gott und Götterbote, aber auch Göttinnen wie Yemọja, die Göttin des Meeres und der Mutterschaft, Ọ̀ṣun, die Göttin eines gleichnamigen Flusses und der Fruchtbarkeit, sowie Ọya, Göttin von Wind und Sturm, des Flusses Niger und ebenfalls der Fruchtbarkeit. Ọya wird eine ansonsten als männlich empfundene Stärke und Zerstörungskraft zugeschrieben. Unter anderem deshalb wird sie mit dem afrikanischen Büffel assoziiert; außerdem gibt es Erzählungen, denen zufolge sie sich in einen Büffel verwandeln konnte, bevor sie ihren Götter-Gatten Ṣàngó heiratete.
Susanne Wengers Serigrafien sind nicht als Illustrationen spezifischer Gedichte in der Anthologie zu verstehen, sondern bilden Szenen aus Götter-Geschichten nach. Gemeinsam mit ihrem Mann Ulli Beier ging die Künstlerin 1950 nach Nigeria, wo sie auch nach der Trennung von ihrem Mann fast sechs Jahrzehnte lang bis zu ihrem Lebensende blieb. Sie war am Aufbau der einflussreichen Òṣogbo Art School beteiligt. Außerdem wurde sie selbst eine bedeutende Priesterin der in der südwestnigerianischen Stadt Òṣogbo besonders verehrten Göttin Ọ̀ṣun und widmete sich der Gestaltung und Pflege des dortigen Heiligen Hains von Ọ̀ṣun, einem Skulpturen-Park, der 2005 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurde. Susanne Wengers Oríkì war übrigens „Àdùnní Olóríṣà“; „Àdùnní“ bedeutet wörtlich „die zu besitzen süß ist bzw. geschätzt wird“, während „Olóríṣà“ der Begriff für den Anhänger bzw. die Anhängerin einer Gottheit ist. Ihr Tod wurde mit den Worten „Erín wọ̀, Àjànàkú sùn bí òkè“ bekannt gegeben, was bedeutet: „Der Elefant ist gefallen, Àjànàkú (ein Oríkì-Spitzname des Elefanten) schläft wie ein Hügel“ (d.h., genau, wie man einen Hügel nicht bewegen kann, steht auch der gefallene Elefant nicht wieder auf). Diese Worte werden nur beim Tod von Königen und besonders bedeutenden Perönlichkeiten verwendet, was wiederum auf das hohe Ansehen des Elefanten verweist.
In der Sammlung der Jahn-Bibliothek für afrikanische Literaturen ist die Anthologie als Sammlung verschriftlichter Oratur eher ungewöhnlich und damit etwas ganz Besonderes. Die Jahn-Bibliothek verfügt aber über einen großen Bestand an zeitgenössischer, geschriebener Literatur in über achtzig verschiedenen afrikanischen Sprachen. Darunter ist auch eine größere Zahl auf Yorùbá verfasster Romane, Theaterstücke und Lyrik-Sammlungen, Kinderbücher und sogar Comics, außerdem Übersetzungen aus dem Yorùbá bzw. ins Yorùbá. Eine ganze Reihe literarischer, auf Yorùbá verfasster Werke wurde in Nigeria auch verfilmt.
Dr. Anja Oed, Wissenschaftliche Leiterin der Jahn-Bibliothek für afrikanische Literaturen
Objekt des Monats September 2015
"Owó Ẹ̀jẹ̀" [dt.: Blutgeld]
Weiterführender Link
Literatur
- Karin Barber: I Could Speak Until Tomorrow: Oríkì, Women, and the Past in a Yorùbá Town. Edinburgh 1991.
- Beier, Ulli (Hg.): Yoruba Poetry. Compiled and edited with Timi Laoye, Bakare Gbadamosi, Duro Ladipo and Ademola Onibonokuta. Bayreuth 2002.
- Bakare Gbadamosi und Ulli Beier (Hg.): Yoruba Poetry. Traditional Yoruba poems collected and translated by Bakare Gbadamosi and Ulli Beier with with silkscreen prints and ten vignettes by Susanne Wenger. Ibadan (Nigeria) 1959.
- Anja Oed: Literaturen in afrikanischen Sprachen und die Jahn-Bibliothek für afrikanische Literaturen. In: Anna-Maria Brandstetter und Carola Lentz (Hg.): 60 Jahre Institut für Ethnologie und Afrikastudien. Ein Geburtstagsbuch. Köln 2006, S. 163-177.
- Susanne Wenger: Kunst als lebendiges Ritual. Bayreuth 1991.