Ein unscheinbares, kurzes Rohr aus Holz mit einem tellerförmigen Aufsatz, wahrscheinlich aus Elfenbein – würde dieser schlichte Gegenstand nicht in der Medizinhistorischen Sammlung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aufbewahrt, rätselte man wohl lange, worum es sich handelte. So wird beim näheren Hinsehen klar: Es ist ein "Hörrohr", vermutlich aus den 1830er- bis 1840er-Jahren.
Wozu diente solch ein Hörrohr? Es wurde von Ärzten als Instrument benutzt, um Herz- und Lungengeräusche zu entdecken und zu beurteilen. Man setzte es auf den Brustkorb der Patienten auf. Zur Beurteilung der Lungengeräusche ließ man diese dann tief einatmen und kurz die Luft anhalten. Das Hörrohr ist damit der Urtyp des Stethoskops, das noch heute ein Standardinstrument in der klinischen Medizin ist. Allerdings sieht dieses heute anderes aus: Über eine kleine Metalldose mit Membran wird das Geräusch vom Patienten über ein Schlauchsystem und über Metallbügel zu den Ohren des Untersuchenden geleitet.
Warum ist dieses schlichte Hörrohr, mit dem man eine scheinbar nur banale Untersuchung vornimmt, so interessant und wichtig? Neben seinem faktischen Wert als historisches Instrument hat es einen großen Wert für den Unterricht im Fach Medizingeschichte, denn es spielt für die Entwicklung der Heilkunde in der Neuzeit eine wichtige Rolle. Warum? Im 18. Jahrhundert war das Arsenal an medizinischen Instrumenten, das ein Arzt besaß, noch sehr eingeschränkt. Die meisten Geräte dienten der äußeren Behandlung von Leiden: Amputationsbestecke, Zangen, Messer, Scheren. Über das Körperinnere wusste man noch wenig. Auch gab es noch kein medizinisches Heilsystem, das von einer Mehrzahl der Menschen anerkannt worden wäre. Vielmehr konkurrierten viele "Heiler" miteinander. Studierte Mediziner waren die Ausnahme.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich dies mit der "Geburt der Klinik": Krankenhäuser wurden gebaut, in denen viele Menschen gleichzeitig behandelt werden konnten. Den Gesundheitszustand dieser Menschen konnte man vergleichen, um dadurch sicherere Erkenntnisse zu erlangen. Gleichzeitig sollte die Medizin praktisch werden und man erfand Instrumente. Eines dieser Instrumente ist das gezeigte Hörrohr. Es markiert wie kein anderes diagnostisches Gerät große Veränderungen in der Medizin: Es war nun möglich, die Patienten nacheinander abzuhorchen, um dadurch statistisches Material vor allem über Lungengeräusche zu bekommen. Durch den Vergleich der Geräusche am lebenden Patienten mit dem Befund am verstorbenen Patienten im Rahmen einer Leichenöffnung konnte man ein Lungengeräusch mit einem bestimmten Krankheitszustand koppeln. So konnte man vor allem Tuberkulose effektiver behandeln.
Andererseits wurde ein Gerät zwischen Arzt und Patient gesetzt. Die Distanz zwischen beiden Partnern des Gesundheitswesens nahm dadurch aus zwei Gründen zu: Einmal entdeckte der Arzt viele verschiedene Geräusche, denen er jetzt eigene Namen gab. Die Patienten, die vorher noch zu großen Teilen dieselbe Sprache gesprochen hatten wie der Arzt, verstanden das nicht mehr. Denn sie selbst konnten die Geräusche nicht hören und kannte sich mit diesen nicht aus.
Auch waren die Ärzte nun gezwungen, ihre Sprache selbst zu ändern. Denn die vielen neuen Begriffe, die jetzt entstanden, waren zusammen mit den anatomischen Begriffen umgangssprachlich nicht mehr beherrschbar. Zur verbesserten Kommunikation erfand man vermehrt lateinische und griechische Begriffe, die man in der damaligen wissenschaftlichen Welt überall verstand. So führte das Hörrohr oder Stethoskop auch zu einer Entfremdung von Arzt und Patient. Mediziner wurden zur professionellen Spezialisten. Die Entwicklung der klinischen Medizin im Krankenhaus war ein Pfeiler der naturwissenschaftlichen Medizin. Der zweite Pfeiler war das Labor. Mit diesem kleinen diagnostischen medizinischen Gerät können also sowohl die Ursprünge unserer heutigen klinischen Medizin als auch deren Erfolge und Probleme erklärt werden.
Prof. Dr. Livia Prüll, Professorin für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin