Im Jahr 1950 verkaufte Adolf Rittscher aus Lübeck dem damaligen Institut für Völkerkunde der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zwei sogenannte Stabkarten: Dünne Mittelrippen aus Kokospalmwedeln sind mit Pflanzenfasern zu einem Gitter verbunden, auf dessen Kreuzungspunkten Korallenstücke befestigt sind.
Solche Stabkarten sind nur von den Marshallinseln im Westpazifik bekannt. Vor dem Hintergrund der einzigartigen Geografie des Inselstaats mit zwei Inselketten bestehend aus neunundzwanzig Atollen und fünf Inseln – der westlichen Ralik-Kette, zu der auch das Bikini-Atoll gehört, und der östlichen Ratak-Kette – entwickelten die Seemeister und -meisterinnen eine Navigationstechnik, die darauf beruhte, dass Atolle und Inseln Dünungen zurückwerfen, brechen und ablenken. Dieses Wissen wird in den Karten bewahrt und weitergegeben. Dabei verweisen die gebogenen und geraden Stäbe auf Dünungen und deren Veränderungen und die Korallenstückchen, bisweilen auch Kaurischnecken, markieren Inseln oder Atolle.
Adolf Rittscher hat die fragilen Objekte im Jahr 1903 von einem lokalen Händler auf Jaluit, einem Atoll der Marshallinseln, gekauft. Laut der mitgelieferten Skizzen soll die L-förmige Karte die Dünungen und Inseln des südlichen Teils der Ralik-Kette darstellen und die zweite Karte einen Ausschnitt aus der Ratak-Kette.
Rittscher war von 1902 bis 1904 für die Jaluit-Gesellschaft tätig, eine 1887 gegründete deutsche Kolonialgesellschaft, die auf den Marshall-, Karolinen- und Gilbertinseln Kokosnussplantagen betrieb und vor allem mit Kopra und Guano handelte. Wie viele andere Händler, Missionare und Kolonialbeamte in der Hochphase des Kolonialismus hat auch er Dinge der materiellen Kultur vor Ort erworben: einen Angelhaken hier, einen Ohrschmuck dort – und eben Stabkarten.
Es ist davon auszugehen, dass Rittscher um die Faszination wusste, die diese Objekte in Europa ausübten. Stabkarten waren erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in europäische Sammlungen gelangt und daher selten und wertvoll. Ganz geschäftstüchtiger Kaufmann, erwarb er die Stabkarten en gros, vielleicht sogar zum Mengenrabatt – für den späteren Verkauf en détail.
Warum Rittscher erst 1928 damit begann, seine Karten zu verkaufen, ist bisher unklar. Sicher ist, dass er zwischen 1928 und 1950 zwei "Serien" mehr oder weniger gleicher Karten verschiedenen Sammlungen und Museen in Deutschland und darüber hinaus anbot. Schätzungsweise einundzwanzig dieser Karten, in der Regel als "Paar" wie in Mainz, liegen heute in zwölf Sammlungsdepots. Selbstverständlich verlor Rittscher in seinen Briefen kein Wort über diesen Handel. Im Gegenteil: Mit einer lückenlosen Provenienz – direkt vor Ort von ihm erworben und mit Erklärungen eines lokalen Experten – machte er jede dieser Karten zu einem unikalen authentischen traditionellen Objekt.
In der Tat waren die Stabkarten bis dahin exklusive Gegenstände, deren Herstellung und Handhabung nur den Expertinnen und Experten in den Seefahrtschulen bekannt war. Jede Schule hatte ihre eigenen Karten, in der Regel nur ein Exemplar. Man unterschied drei Arten von Stabkarten: erstens Lehrkarten, die abstrakt das Konzept des Seefahrens vermittelten; zweitens Übersichtskarten, die die wichtigsten Inseln der beiden Inselketten oder nur eine der beiden Ketten (oder einen Teil davon) abbildeten; drittens Spezialkarten, die wie bei einer Ausschnittvergrößerung Positionen von Atollen und Inseln mit spezifischen Dünungsverhältnissen zeigten. Die Karten, von denen einige weit über 100 Zentimeter in der Breite und Länge hatten, wurden nicht mit auf See genommen. Die Kunst einer Seefahrerin oder eines Seefahrers beruhte auf dem Wissen über See- und geografische Verhältnisse, Stern- und Wetterkunde und jahrelangen Erfahrungen.
Die Vervielfältigung wie die Gleichartigkeit der von Rittscher verkauften Karten legen den Schluss nah, dass er diese Objekte gezielt anfertigen ließ, möglicherweise sogar nach einer Vorlage aus einer Schule. Es könnte auch sein, dass die eher groben Übersichtskarten, zu denen auch die Karten aus dem Rittscher-Fundus gehören, überhaupt erst im kolonialen Kontaktraum der Südsee entstanden sind. Sie enthielten, so der Ethnologe Ben Finney, kaum Informationen über Dünungen, zeigen vor allem Inseln und seien europäischen Karten sehr ähnlich (S. 482).
Die Karten von Rittscher wären damit mehrfach "verflochtene Objekte" (Nicholas Thomas), in denen die lokale Aneignung von europäischen Techniken (Karten) und die europäische Aneignung neuer lokaler Dinge zusammenlaufen und die so auf die Dynamiken im kolonialen Grenzraum Ozeaniens verweisen. Die Geschichte ihrer Musealisierung zeigt einmal mehr, dass es in den ethnologischen Sammlungen weitaus mehr Objekte gibt, die bestellt oder gezielt angefertigt wurden, als allgemein angenommen.
Dr. Anna-Maria Brandstetter, Kuratorin der ethnografischen Studiensammlung
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Literatur
- Ben Finney: Nautical Cartography and Traditional Navigation in Oceania, in: David Woodward und G. Malcolm Lewis (Hg.): Cartography in the Traditional African, American, Arctic, Australian, and Pacific Societies, Chicago [u.a.] 1998.
- Joseph Genz: Complementarity of Cognitive and Experiential Ways of Knowing: The Ocean in Marshallese Navigation, in: Ethos 42,3 (2014), S. 332-351.
- Augustin Krämer und Hans Nevermann: Ergebnisse der Südsee-Expedition 1908-1910. II. Ethnographie: B. Mikronesien, Band 11: Ralik-Ratak (Marshall-Inseln), Hamburg 1938.
- Hermann Mückler: Kolonialismus in Ozeanien, Wien 2012.
- Nicholas Thomas: Entangled Objects: Exchange, Material Culture, and Colonialism in the Pacific. Cambridge, Ma. und London 1991.