"Auf dem meinigen Ikon scheint mir eine Frau dargestellt zu sein. Der Gesichtstypus erinnert etwas an ein Mumienbild. Anders sind nur die Grübchen unter den Augen. Der obere Teil des Gewandes ist noch sichtbar. Jedenfalls sollte es eine Heilige sein."
So beschrieb Johann Georg Herzog zu Sachsen die Porträtbüste auf dieser nur 8,5 cm großen runden Holzscheibe, die er 1927 im Kunsthandel in Kairo erwarb. Sie gehört heute zur Prinz Johann Georg-Sammlung des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität und wird im Landesmuseum Mainz aufbewahrt.
Wer ist wirklich dargestellt? Keine Beischrift verrät uns Näheres. Bei oberflächlichem Betrachten könnte man dem Urteil des weit gereisten Herzogs, der sich als prominenter Kunstkenner und leidenschaftlicher Sammler unzähliger Kunstobjekte einen Namen machte, zustimmen. Oder gibt es Indizien, die uns die Identität der dargestellten Person entschlüsseln? Die frontale Darstellung mit Nimbus, dem Heiligenschein, spricht für ein Heiligenbild, ebenso der ikonenhafte, unbewegte Gesichtsausdruck mit übergroßen, himmelwärts gerichteten Augen. Die höfisch-byzantinische Lockenfrisur, die das Gesichtsporträt rahmt, das blassrosa Inkarnat, die roten Lippen und die perlengeschmückte Borte am Gewand suggerieren eine feminine Erscheinung. Die mandelförmigen, durch starke Konturen, breite Brauen und einen roten Lidstrich betonten Augen wirken fast wie geschminkt und bestätigen diesen ersten Eindruck. Betrachtet man aber den hellblauen Nimbus näher, lässt sich darin ein Kreuz erkennen, dessen drei Arme mit Edelsteinen verziert sind. Dieser Kreuznimbus, der auf den Kreuzestod Christi hinweist, führt den Betrachter auf die richtige Spur. Dargestellt ist Christus, nicht im geläufigen Typus des bärtigen Allherrschers, sondern als jugendlich-bartloser Emmanuel. Diese Bildformel basiert auf der alttestamentlichen Verheißung der Geburt Jesu mit dem Namen Immanuel, "Gott ist mit uns", im Matthäusevangelium (Mt 1,23).
Die Form des Rundbildes, der imago clipeata, geht auf römische Ahnenporträts zurück. Stilistisch zeichnet sich die in Temperatechnik auf Holz gemalte Porträtbüste durch große Flächigkeit und Linearität, kräftige Umrisslinien und breite Binnenkonturen aus. Auffallende Übereinstimmungen im Malstil zeigen Wandmalereien im Kloster Bawit in Ägypten, die in das 6./7. Jahrhundert n. Chr. datiert werden. Dies macht eine Einordnung unseres Objektes in ebendiese Zeit wahrscheinlich. Größe, Form, Material, Maltechnik und die reiche Farbpalette deuten zudem auf eine Verwandtschaft mit zwei weiteren Fundstücken hin, kleinen Holzscheiben, ebenfalls mit Gesichtsporträts, die sich heute im Koptischen Museum in Kairo befinden. Sie stellen, durch Beischriften gesichert, die Porträtbüsten der Gottesmutter Maria und des Erzengels Michael dar. Der geschichtliche Hintergrund macht die Bedeutung dieser drei Medaillons erst verständlich. Es gibt nur wenige erhaltene Christusikonen vor dem Ikonoklasmus, dem Bilderstreit, in Byzanz im 8./9.Jahrhundert. Ausgehend vom mosaischen Bilderverbot lehnten die Bilderstürmer die Abbildung von Christus und die Verehrung seiner Bilder, sowie der Marias und der Heiligen, ab. Viele Ikonen fielen der Zerstörung zum Opfer. So ist diese auf den ersten Blick unscheinbare Holzscheibe ein seltenes Kleinod aus der Zeit vor dem Bildersturm.
Wozu wurde diese kleine Ikone verwendet? Der keilförmig geschrägte Holzzapfen am unteren Ende verweist auf eine Aufsteckfunktion. Leider gibt es keine überzeugenden bildlichen oder literarischen Vergleichsbeispiele, die uns eindeutige Indizien für den Gebrauch solcher Aufsteckscheiben liefern. Diese Tatsache erschwert die funktionelle Einordnung. Hans Belting vermutet eine Befestigung der Christusikone als Bildnisschild auf einem militärischen Triumphalkreuz. Ein gemeinsamer Verwendungskontext der drei Medaillons eröffnet neue Deutungsmöglichkeiten, etwa die einer Anbringung auf der Kreuzspitze und den Kreuzarmen eines Prozessionskreuzes. Gut denkbar ist aber auch eine Nutzung im liturgischen Bereich als Ikonenschmuck auf dem oberen Balken der Altarabschrankung in einer Kirche. Dort könnten die drei Porträtbüsten Teile einer großen Deesis, eines byzantinischen Fürbittenbildes, gewesen sein. Mit Christus in der Mitte, Maria, Johannes dem Täufer, den Erzengeln und weiteren heute verlorenen kleinen Heiligenikonen zu beiden Seiten hätten sie als stellvertretende Bittsteller für das Seelenheil der Kirchenbesucher fungiert. Über die praktischen Seiten, die Art der Anbringung oder die Sichtbarkeit für die Gläubigen dieser doch sehr kleinen Holzikonen kann nur spekuliert werden. So bleibt die Forschung an dieser kleinen Porträtscheibe weiterhin spannend.
Dipl.-Theol. Martina Horn, B.A., Doktorandin für byzantinische Kunstgeschichte
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Literatur
- Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 7. Aufl. München 2011, S. 120-133.
- Birgit Heide und Andreas Thiel (Hg.): Sammler-Pilger-Wegbereiter. Die Sammlung des Prinzen Johann Georg von Sachsen [Ausstellungs-Katalog Landesmuseum Mainz 2004-2005], Mainz 2004.
- Johann Georg, Herzog zu Sachsen: Neue Streifzüge durch die Kirchen und Klöster Ägyptens, Leipzig/Berlin 1930, S. 50f.
- Helga Tichy: Zur Frage der ursprünglichen Funktion von drei Bildnisclipei im christlichen Kultbereich, in: Mitteilungen zur Christlichen Archäologie 16 ( 2010), S. 29-52.
- Wilhelm Weber: Die Prinz Johann Georg-Sammlung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1981.