Schon im alten Mesopotamien konnten hochrangige Beamte für ihre Dienste mit Schenkungen oder Freistellungen belohnt werden, über die sie dann eine in Keilschrift verfasste Besitzurkunde erhielten. Von der Mitte des zweiten Jahrtausends bis etwa 700 v. Chr. wurden einige dieser Urkunden zusätzlich in Form kleiner, reliefverzierter Stelen in Tempeln aufgestellt. Die babylonisch als narû "Stele" oder kudurru "Grenzstein" bezeichneten Objekte sollten die Besitzansprüche des Eigentümers unter den Schutz der Götter stellen und für jeden sichtbar machen.
Heute sind etwa 160 Kudurrus bekannt. Die altorientalische Lehrsammlung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beherbergt Abgüsse von vier Exemplaren aus dem Vorderasiatischen Museum Berlin.
Der hier vorgestellte kudurru aus dem siebten Regierungsjahr des babylonischen Königs Marduk-apla-iddina II – in der biblischen Überlieferung Merodach-baladan, 721-710 und 703 v. Chr. – ist eine 45 Zentimeter hohe und 32 Zentimeter breite, oben abgerundete Stele aus schwarzem Stein gefertigt. Er wurde 1889 aus dem Kunsthandel erworben und unter der Museumsnummer VA 2663 inventarisiert; sein Fundort ist unbekannt.
Die Vorderseite zeigt den durch eine zweizeilige Beischrift eindeutig benennbaren König mit langem Gewand, spitzer Kopfbedeckung und Stab in einer sogenannten Belehnungsszene vor Bēlu-aḫḫē-erība, dem obersten Beamten (šākin ṭēmi) Babylons und Begünstigten der in der Inschrift aufgeführten Landschenkungen. Er ist in einem ähnlichen Gewand, aber ohne Schuhe und wesentlich kleiner dargestellt. Im oberen Register sind mehrere Gottheiten durch ihre Symboltiere und Attributgegenstände repräsentiert: Der Schreibergriffel mit dem Schlangendrachen Mušḫuššu für den Schreibergott Nabû, das omegaförmige Band, das keiner Gottheit sicher zugewiesen werden kann, der Widderstab mit dem Ziegenfisch für den Gott Ea und der Spaten mit dem Mušḫuššu für Marduk, den obersten Gott des babylonischen Pantheons.
Auf der linken Seite windet sich eine Schlange in Richtung der oberen Kante, die wiederum mit einigen Göttersymbolen versehen ist: Neben einem Skorpion, dessen Bedeutung unklar ist, sind dies Sonne, Mond und Venus für die jeweiligen Astralgottheiten sowie die Lampe auf dem Ständer für den Lichtgott Nusku, das Blitzbündel für den Wettergott Adad, der sitzende Hund für die Heilgöttin Gula und der schreitende Vogel für die Wesirgottheit Papsukkal. Das obere Register der rechten Seite des kudurrus zeigt zwei weitere Sockel mit jeweils einer Hörnerkrone, der typischen Kopfbedeckung der Götter in Mesopotamien, und einen Sockel mit einem Löwendrachen, der verschiedene Gottheiten begleiten kann.
Der untere Teil der rechten Seite und die gesamte Rückseite sind mit einer fünfkolumnigen Inschrift versehen, die ausführlich erzählt, wie Marduk-apla-iddina vom babylonischen Stadtgott Marduk als König eingesetzt wurde, seine Taten rühmt und schließlich berichtet, wie er die Ländereien Babylons nach der Verwüstung durch die Feinde wieder an ihre rechtmäßigen Besitzer verteilt, um die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. Darauf folgt die Beschreibung der Ländereien, die Bēlu-aḫḫē-erība erhält – insgesamt 2983 Seah Saatfelder, Dattelpalmgärten und Bruchland – und eine Auflistung der Zeugen, die beim Siegeln der Schenkungsurkunde anwesend waren, mit Ort und Datum.
Die Inschrift endet mit einer ausführlichen Fluchformel, die demjenigen, der den kudurru zu vernichten oder zu verändern sucht, die Rache der Götter durch schwere Krankheit und keinerlei Nachkommenschaft androht.
Univ.-Prof. Dr. Doris Prechel
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Literatur (Auswahl)
- Paulus, Susanne: Die babylonischen Kudurru-Inschriften von der kassitischen bis zur frühneubabylonischen Zeit. Untersucht unter besonderer Berücksichtigung gesellschafts- und rechtshistorischer Fragestellungen, AOAT 51 (Münster 2014).
- Seidl, Ursula: Die babylonischen Kudurru-Reliefs. Symbole mesopotamischer Gottheiten, OBO 87 (Freiburg 1989).
- Slanski, Kathryn E.: The Babylonian Entitlement narûs (kudurrus). A Study in Their Form and Function (Boston 2003).