Zu den wissenschaftlichen Sammlungen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zählt auch der Pflanzenbestand des Botanischen Gartens. Wie für Objekte musealer Sammlungen existiert zu jeder Pflanze eine umfangreiche Dokumentation. Sie beinhaltet neben taxonomischen Daten wie Name und Heimat möglichst genaue Herkunftsdaten, Angaben zur wissenschaftlichen Bestimmung, zum Standort im Garten, zu Blühereignissen, Kulturansprüchen und vieles mehr.
Aktuell umfasst die Sammlung des Botanischen Gartens rund 9.300 lebende Akzessionen. Aber anders als bei klassischen Objektsammlungen besteht bei lebenden Pflanzen natürlich eine hohe Fluktuation. Der Bestand muss also ständig überprüft und aktualisiert werden.
Um Pflanzen sicher identifizieren zu können, muss man in aller Regel warten, bis sie zum ersten Mal blühen. Je nach Pflanzenart kann das einige Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. Die Benennung vieler Pflanzen im Botanischen Garten ist daher zunächst vorläufig. Das galt bis vor Kurzem auch für die große Agave, die seit 1997 im Sukkulentengewächshaus gepflanzt ist. Sie lief unter dem Namen Agave horrida, was angesichts der sieben Zentimeter langen, nadelförmigen Blattspitzen eine durchaus passende Benennung war. Allerdings war die Agave im Laufe der Jahre so groß geworden, dass diese Bestimmung zunehmend fraglich wurde. Inzwischen hat sie einen Durchmesser von mehr als zwei Meter erreicht und Anfang 2014 hat sie nun mit der Bildung eines mächtigen Blütenstandes begonnen. Auch wenn die Blüten noch nicht erkennbar sind, war anhand der Merkmale des Blütenstandes eine Identifizierung möglich: Es handelt sich um die mexikanische Agave salmiana Otto ex Salm-Dyck, deren Geschichte wir nun genauer recherchiert haben.
Agaven sind eine enorm spannende und eindrucksvolle Pflanzengruppe. Ihre Blütenstände gehören zu den größten im Pflanzenreich und ihre bizarre Erscheinung hat Botaniker und Pflanzensammler von jeher fasziniert. Man kann Agaven heute in vielen wärmeren Regionen der Erde antreffen, ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet erstreckt sich aber vom Süden der USA über Mexiko und die Karibik bis nach Venezuela. In ihrer heutigen Umschreibung, die auch auf molekularen Stammbäumen basiert, umfasst die Pflanzengattung rund 210 Arten mit einem klaren Verbreitungsschwerpunkt in Mexiko. Agaven blühen auch in der Natur teils erst nach vielen Jahren und sterben danach ab. Jedoch vermehren sich viele Agaven auch vegetativ durch Ausläufer mit Tochterrosetten. Die Bestäubung ihrer Blüten erfolgt wie bei großen Säulenkakteen vor allem durch Fledermausarten, die sich von Nektar ernähren.
Mitte des 16. Jahrhunderts gelangten die ersten Agave-Pflanzen nach Europa. Es handelte sich zunächst vor allem um Exemplare der Hundertjährigen Agave (Agave americana), die sich im Mittelmeergebiet schon bald auszubreiten begann. In den repräsentativen Gärten der europäischen Fürstenhäuser kam die neue exotische Pflanze, die damals noch als "Aloe" klassifiziert wurde, schnell in Mode. Im kühleren Mitteleuropa wurde sie in Kübeln gepflanzt und in den beheizten Orangerien oder Gewächshäusern überwintert. Es war eine Sensation, wenn solch eine Agave nach vielleicht fünfzig oder mehr Jahren ihren Lebenszyklus mit einem bis zu zehn Meter hohen Blütenstand abschloss. Erste Blühereignisse sind bereits im 16. Jahrhundert dokumentiert, eines der aufsehenerregendsten war jedoch die Blüte einer Agave americana im Köpenicker Schloss von Berlin im Jahre 1712. Sogar der russische Zar Peter der Große soll sie sich begeistert angeschaut haben.
Im 19. Jahrhundert wurden dann immer mehr neue Agave-Arten nach Europa eingeführt. Da die Pflanzen, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren zur Blüten kamen, wurden neue Arten fast ausschließlich anhand von Blattmerkmalen klassifiziert. Eine klare Zuordnung dieser frühen Benennungen mit oft nur knappen Beschreibungen ist heute schwierig. Zudem wurden viele Arten unter verschiedenen Namen mehrfach beschrieben. Der Name unserer Pflanze, Agave salmiana, wurde erstmals 1842 in einer Auflistung der Agaven des königlichen botanischen Gartens von Berlin veröffentlicht. Eine wissenschaftliche Beschreibung folgte 1859 durch den Fürsten Josef zu Salm-Reifferscheidt-Dyck, der ein begeisterter Amateurbotaniker war und in den Gärten seines Schlosses Dyck bei Neuss eine umfangreiche Sammlung von Kakteen und anderen sukkulenten Pflanzen unterhielt. Aber auch der Fürst konnte zu diesem Zeitpunkt nur die auffällig dicken und großen Blätter der neuen Agave beschreiben. Die Blütenmerkmale der Agave salmiana konnte erst der englische Botaniker John Gilbert Baker im Jahre 1877 ergänzen, nachdem in der Zwischenzeit Exemplare dieser Art in Antibes in Südfrankreich, in Saint Germain bei Paris und in Stuttgart geblüht hatten. Bei diesen Exemplaren hatte der Blütenstand eine Höhe von bis zu acht Meter erreicht.
Agave salmiana ist eine der häufigsten Agave-Arten im zentralmexikanischen Hochland. Sie wird seit Jahrtausenden von Menschen genutzt und kultiviert. In Mexiko ist sie unter dem Namen Maguey de pulque bekannt. Maguey ist die spanische Bezeichnung für Agaven, Pulque ist das traditionelle alkoholische Nationalgetränk Mexikos. Es wird hauptsächlich aus dem Saft dieser Agaven-Art hergestellt. Dazu werden bei ausgewachsenen Pflanzen die inneren Blätter herausgestochen. In der Vertiefung, die dadurch an der Spitze der Agave entsteht, sammelt sich ein milchig trüber Pflanzensaft, der abgeschöpft und in offene Bottiche gefüllt wird. Darin erfolgt innerhalb weniger Stunden durch Bakterien eine Fermentation, bei der auch Alkohol entsteht. Der fermentierte, etwas schleimige und säuerliche Agavensaft wird dann als Pulque bezeichnet. Wie Federweißer ist Pulque nicht lange haltbar und wird daher fast ausschließlich im Hochland von Mexiko getrunken. Bei den Azteken war der Genuss von Pulque den Priestern bei rituellen Handlungen vorbehalten. Nach der Eroberung durch die Spanier wurde Pulque allgemein zugänglich und im 19. Jahrhundert zu einem Massengetränk, das inzwischen aber wieder an Popularität verloren hat. Agaven-Schnaps – Mezcal und Tequila – ist heute von größerer Bedeutung.
Das Alter und die Herkunft unserer Agave salmiana ist leider nicht dokumentiert. Als sie 1997 im Gewächshaus im Botanischen Garten gepflanzt wurde, hatte sie schon eine beachtliche Größe. Möglicherweise stammt sie noch aus der Anfangszeit des Botanischen Gartens in den 1950er Jahren. Auf alle Fälle ist es die erste große Agaven-Art, die im Botanischen Garten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zur Blüte gelangt. Wir rechnen allerdings damit, dass es noch mindestens vier bis sechs Monate dauern wird, bis die Entwicklung des Blütenstandes abgeschlossen ist. Wenn alles gut geht, werden sich dann im oberen Abschnitt des Blütenstandes an kurzen Seitenästen dichte Büschel mit mehreren Tausend gelbgrünen Blüten öffnen. Bis dahin gilt es aber, noch einige Schwierigkeiten zu überwinden. Denn im Moment wächst der Blütenstand zwischen drei und sechs Zentimeter pro Tag. Hält dieses Wachstum an, wird die Spitze Ende Februar das Dach des Gewächshauses erreicht haben. Die Scheibe an dieser Stelle wurde in den vergangenen Tagen bereits ausgetauscht. Sie ist so präpariert, dass sich ein kreisförmiges Segment herauslösen lässt. Der Zeitpunkt für den Dachdurchtritt ist im Winter natürlich äußerst heikel. Die Spitze des Blütenstandes muss außerhalb des Gewächshauses noch längere Zeit durch einen Folienschlauch vor Frost geschützt werden. Ob dieser Schutz ausreichen wird, lässt sich nicht garantieren. Alles hängt von der Witterung ab; anhaltender starker Frost kann alle Hoffnungen zunichte machen.
Sollte alles gut gehen, wird die Agave nach der Blüte im Herbst absterben. Bis dahin werden wir den wissenschaftlichen Sammlungen einige gepresste Blüten als Herbarbelege hinzugefügt haben. Für den Fall, dass doch nicht alles wie geplant klappen sollte, gibt es einen kleinen Trost: Der Ableger der Agave salmiana wird in einigen Jahrzehnten wieder eine blühfähige Größe erreicht haben.
Über den aktuellen Stand informiert die Internetseite des Botanischen Gartens. Gern können interessierte Besucher natürlich auch direkt ins Gewächshaus kommen. Es ist täglich von 7:30 Uhr bis 15:30 Uhr geöffnet, freitags bis 13:00 Uhr
Dr. Ralf Omlor
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Literatur (Auswahl)
- Baker, J. G. (1877). The genus Agave. The Gardeners‘ Chronicle (new series) 7: 718.
- Gentry, H. S. (1982). Agaves of Continental North America. The University of Arizona Press, Tucson.
- Good-Avila, S.V., V. Souza, B. S. Gaut & L. E. Eguiarte (2006). Timing and rate of speciation in Agave (Agavaceae). PNAS 103(24): 9124 9129.
- Krausch, H.-D. (2003). “Kaiserkron und Päonien rot …” Entdeckung und Einführung unserer Gartenblumen. Dölling und Galitz Verlag.
- Otto, F. (1842). Die Agave-Arten des königlichen botanischen Gartens zu Berlin im Jahre 1842. Allgemeine Gartenzeitung 7: 49‑51.
- Salm-Dyck, J. (1895). Bemerkungen über die Gattungen Agave und Fourcroya nebst Beschreibung einiger neuen Arten. Bonplandia 7: 85‑96.