Auf meinem Weg zur Arbeit, vor dem Georg Forster-Gebäude: Transparente mit Parolen wie "Qualität statt Quantität #es kommt nicht auf die Größe an!", ein paar Schritte weiter mehrere Dutzend Studierende bei einem Sit-in.
Rund 1.500 Unterschriften haben sie für ihre Petition bereits gesammelt. Es geht um die drohende Auflösung der AG Sonderpädagogik. Revolution am Campus? Renaissance des Politischen à la 68er?
Sommer 2017
Bereits Ende Juni waren Mainzer Studierende auf die Barrikaden gegangen. Im Rahmen der deutschlandweiten Aktionswoche "Lernfabriken meutern!" machen sie auf "undemokratische Strukturen", katastrophale Bildungsbedingungen und die massiven Sparmaßnahmen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aufmerksam. Wir kennen es alle: Der Putz kommt von den Wänden, zu wenig Lehrpersonal, überfüllte Bibliotheken bis hin zur Streichung der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch Stipendien. An allen Ecken muss gespart werden! Dass an der Demonstration dann doch nur rund 100 Studierende teilnahmen, mag an den hohen Temperaturen gelegen haben oder dass man mit dem Schreiben eines Sommerhits beschäftigt war. Egal. Es bewegt sich etwas in der Studierendenschaft.
Die Proteste erinnern mich an meine Bachelorarbeitszeit. Ich hatte mich mit der 68er-Bewegung beschäftigt, dabei aber kaum etwas über die Mainzer Studentenproteste erfahren. Welche Themen beschäftigten die Studierenden vor 50 Jahren an der JGU? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den Protesten von heute und damals? Ich machte mich auf die Spurensuche und wurde in den Beständen des Universitätsarchivs fündig.
Sommer 1967
Wenn man im Sommer 1967 über den Mainzer Campus lief, konnte man ebenfalls Zeuge von damals neuen Protestformen wie Sit-ins und Teach-ins werden. In der Fotosammlung des Archivs finde ich Bilder von mehreren Streiks aus jener Zeit. Der Frust der Studierenden war durch die Erschießung von Benno Ohnesorg weiter entfacht worden. (Wie man an der Mainzer Uni auf Ohnesorgs Tod reagierte, könnt ihr hier nachlesen.) Über die Protestzentren Berlin und Frankfurt hinaus erhielt die Studentenbewegung rasant Zuwachs. Auch wenn Mainz nicht gerade als Hochburg der 68er-Bewegung bekannt ist, machten die Studierenden der JGU ihrer Unzufriedenheit mit der hiesigen Situation zunehmend Luft.
Vom wachsenden Frust zeugen zahlreiche Quellen. Wie die vom AStA im Auftrag gegebene Studentenzeitung nobis. Sie gibt einen anschaulichen Überblick über all das, was die Studierenden im Sommer 1967 bewegte. Diese und weitere Quellen können bei uns im Universitätsarchiv eingesehen werden.
Darf’s noch ein Amt sein?
Bereits der erste Artikel der Juli-Ausgabe sorgte universitätsweit für große Furore. Er handelt von einem Fall von Ämteranhäufung, der von den Studierenden als Symbol für die undemokratischen Hochschulstrukturen wahrgenommen wurde. Walter Holsten, Professor für Allgemeine Religions- und Missionswissenschaft der evangelisch-theologischen Fakultät, hielt sage und schreibe 13 (in Worten: dreizehn!) Ämter inne. Was dazu führte, dass es einem Studierenden z. B. passieren konnte, dass Professor Holsten sowohl über dessen Examensnote als auch über Bafög-Bescheid und Wohnheimplatz mitentschied. Der Artikel betonte: Der Fall Holsten war nur ein Beispiel von vielen für dieses Phänomen. Ist das heute eigentlich so viel anders?
Alles nur Propaganda?
Der Artikel schlug damals hohe Wellen und wurde auf die Tagesordnung der Senatssitzung vom 28. Juli gesetzt. Der Senat hat ihn „mit Befremden wahrgenommen“, da Holsten für einige seiner Ämter sogar von Studierenden vorgeschlagen worden war. Altrektor Johannes Bärmann war sogar der Meinung, dass der Fall vor den Universitätsrichter gehöre. (Ja, es gab einen Universitätsrichter, das ist aber eine andere Geschichte...) Professor Holsten selbst war der Auffassung, dass es sich bei dem Artikel nicht um „sachliche Dinge, sondern nur um Verhetzung und Propaganda“ handle. Er habe den Artikel nicht weiter zur Kenntnis genommen, kündigte aber trotzdem seine Mitarbeit in der Evangelischen Studentengemeinde auf.
Kritik an der Ämterkonzentration wurde v. a. auch deshalb geäußert, weil die Studierenden kaum hochschulpolitisches Mitspracherecht hatten. Professoren, wie der neugewählte Rektor Adolf Adam sträubten sich sogar gegen die studentische Teilhabe an Universitätsgremien. Diesen Missstand thematisierte auch ein weiterer nobis-Artikel über die Mainzer Assistentenschaft, also über den wissenschaftlichen Nachwuchs. Diese besaß bis dato gar kein Mitspracherecht und fand sich deshalb im Februar 1967 zur ersten Assistentenversammlung zusammen. Einer der Sprecher stellte dabei klar, dass man „keine Revolution, sondern einfach besser integriert und besser informiert werden“ wolle. Als Promotionsstudentin vermisse ich heute auch manchmal ein Forum, das sich speziell für die Belange der Doktorandinnen und Doktoranden einsetzt.
Für mehr Zucht und Ordnung – Kooperation der JGU mit der Bundeswehr
Die Assistentenversammlung war Ausdruck des Wunsches nach mehr Transparenz. Die mangelhafte Informationspolitik der Lehrenden war auch der Aufmacher der Juli-Ausgabe „Herr General! Magnifizenz! Meine Damen und Herren!“. Anlass war ein Vortrag des Mainzer Politikwissenschaftlers Hans Buchheim zum Thema „Die gegenwärtige Lage des deutschen Nationalbewußtseins“. Zu den geladenen Gästen zählten auch Angehörige der Bundeswehr, die akademische Öffentlichkeit war laut den Verfassern des Artikels jedoch nicht eingeladen worden. Als rund 50 „kritische Studenten“ von dem Vortrag durch Zufall mitbekamen, luden sie sich kurzerhand einfach selbst ein.
Im Senat wurde nach den studentischen „Provokationen“ beratschlagt, ob häufigere Gespräche zwischen Lehrenden und Studierenden nicht sinnvoll wären. Erst jetzt wurden die Studierenden über den bereits seit Ende 1965 andauernden Austausch zwischen Bundeswehr und Universität informiert. Ziel der Zusammenarbeit sollte es sein auszuloten, ob die Ausbildung von Abiturienten zu Reserveoffizieren nützlich für ein Universitätsstudium sei. Zudem erfuhren die Studierenden, dass die Bundeswehr vorhatte, einen Lehrstuhl für Strategie an der Mainzer Universität einzurichten. Für die nobis-Autoren stand jedoch fest, dass „militärische[...] Sitten, Gehorsam, Zucht und Ordnung“ nicht mit „freiem Lernen, Lehren und Forschen“ vereinbar seien.
Krise als Dauerzustand?
Die Ämteranhäufung und fehlende Transparenz sind nur zwei von zahlreichen Symptomen der überkommenen Hochschulordnung, die von den Studierenden kritisiert wurden. Auch in der nobis-Ausgabe vom Juni 1967 wurde die Mainzer Universitätssatzung beanstandet. Hier schrieb Wolfgang Heinz, dass die Studierenden kaum Rechte hätten, geschweige denn gegenüber dem akademischen Lehrkörper gleichberechtigt seien. Daher seien in der BRD die Universitäten „immer noch [...] obrigkeitsstaatliche Insel[n] im demokratischen Rechtsstaat.“ Die Studierenden in der ganzen BRD bemängelten u. a. den Reformstau sowie die verkrusteten Strukturen. Forderungen nach der Demokratisierung der Universitäten, nach Transparenz, Teilhabe und verbesserten Studienbedingungen wurden immer lauter.
Auch wenn sich in den letzten 50 Jahren vieles geändert hat – Studierende u. a. stärker in die Gremien integriert sind und somit mehr Mitspracherechte haben – erinnern die Forderungen von 2017 doch z. T. an diejenigen von 1967. Bis heute wird von den Studierenden die Informationspolitik des Lehrkörpers kritisiert. Auch heute wird Kritik am vermeintlich undemokratischen Bildungssystem, bspw. im Rahmen des Bündnisses „Lernfabriken...meutern!“ geäußert.
Worin unterscheiden sich die aktuellen Proteste an der JGU von denen von vor 50 Jahren? Damals waren außeruniversitäre Themen von zentralerer Bedeutung. Die 68er-Bewegung wurde nicht zuletzt auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angetrieben. Das Jahr 1967 galt als Jahr der Krisen – Demokratiekrise, Wirtschaftskrise, Studentenkrise,...
„Studentische Störenfriede“ als Indikator für gesellschaftliche Missstände
Dementsprechend wurden in der nobis verstärkt gesellschaftspolitische Themen wie die bevorstehende Einführung der Notstandsgesetze, polizeiliche Willkür oder die Monopolstellung des Axel Springer-Verlags thematisiert. Es wurden daher Parallelen zwischen der damaligen Situation und der am Ende der Weimarer Republik gezogen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass in der Juli Ausgabe der nobis deshalb auch Fragen „ [z]ur politischen Rolle der Studentenschaft“ gestellt wurden. Unter diesem Titel war die Rede von Jürgen Habermas beim Teach-in anlässlich des Todes von Benno Ohnesorg abgedruckt worden. In dieser verwies der Frankfurter Philosophieprofessor, dass die studentische Opposition zwar Teil der außerparlamentarischen Opposition sei, aber keine Sonderrechte besäße. Nichtsdestotrotz seien die studentischen Proteste von zentraler Bedeutung, da sie auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und die Perspektive von „Realpolitikern“ erweitern könnten. Bei der Frage, ob und in welcher Form die Studierenden ein politisches Mandat hätten, wurde aber deutlich, dass studentischen Gruppierungen je nach politischer Ausrichtung unterschiedlicher Meinung waren. Während man sich bei den hochschulpolitischen Missständen oft einigen konnte, war bei gesellschaftspolitischen Problemen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen keine Einigung möglich.
...Wie ist das heute eigentlich?
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Stefanie Martin arbeitet in der Bereichsbibliothek MIN.