Ein Stammbuch (Album amicorum) ist eine Art Freundschaftsbuch oder Poesiealbum. Sie waren vor allem im 17. und 18. Jahrhundert unter Studierenden beliebt. Unterschreiben durften nicht nur Kommilitonen, Freundinnen und Freunde, sondern auch Professoren und andere Persönlichkeiten, zu denen man aufschaute. Die Einträge bestehen neben Namen, Ort und Datum auch aus einem kurzen Text, in dem beispielsweise die Freundschaft versichert oder eine Lebensweisheit mitgegeben wurde. Häufig wurden die Einträge mit kleinen Zeichnungen oder Aquarellen verziert.
Auf diese Art dokumentierten Stammbücher das studentische Leben und sind eine wertvolle Quelle für die kultur- und sozialgeschichtliche Forschung. Mit ihnen sind unter anderem Analysen sozialer Netzwerke möglich, die grobe Rekonstruktion von Lebensläufen sowie Aussagen über Trends unter damaligen Studierenden – beispielsweise beliebte Literatur, die in den Einträgen zitiert wurde. Insbesondere zur Zeit der Französischen Revolution finden sich auch politische Äußerungen, die gemäß der privaten Natur der Stammbücher nicht der Zensur unterlagen.
Das vorliegende Stammbuch wurde im Oktober 1979 von der Universitätsbibliothek der JGU gekauft und ist heute vollständig digitalisiert auf Gutenberg Capture verfügbar. Geführt wurde es in den Jahren 1802 bis 1812 von einem Studenten der Albertus-Universität Königsberg (Preußen). Da lediglich die Initialen C. H. B. angegeben sind, kann die genaue Identität des Besitzers nicht ermittelt werden – sehr wahrscheinlich studierte er jedoch Rechtswissenschaften und betrachtete den Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) als großes persönliches Vorbild.
So kommt es, dass sich in diesem recht unscheinbaren Buch das letzte bekannte Bildnis Immanuel Kants zu seinen Lebzeiten findet.
Kant war von 1770 bis 1796 Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg. Der Besitzer des Stammbuches muss am 16. Januar 1802 über private Kontakte eine Begegnung mit dem inzwischen hochbetagten Philosophen erreicht haben, damit dieser als einer der ersten seinen Eintrag vornehmen konnte.
Geschmückt wird die Doppelseite von einer grauen Pinselzeichnung, die den Philosophen im Porträt zeigt. Es ist keine geschönte Darstellung und wurde deshalb wohl nicht von einer Vorlage übernommen, sondern nach eigener Ansicht gezeichnet. Signiert ist das Bild mit Baltruschatis fecit. Möglicherweise handelt es sich hier um Friedrich Heinrich Leopold Baltruschatis, einen Freund des Stammbuchbesitzers, der wenige Tage nach Kant selbst einen Eintrag hinterließ.
Immanuel Kant verewigte sich mit dem lateinischen Sinnspruch Ad poenitendum properat, cito qui iudicat: Zur Reue eilt, wer schnell urteilt. Darunter findet sich eine Bemerkung über Kant von anderer Hand: „Gestorben d 12ten Fbr um 11 Uhr Mittags 1804; alt, 79 Jahr 10. Monath.“
Das lateinische Zitat ist häufiger von Kant für Stammbucheinträge verwendet worden. Ursprünglich handelt es sich um einen Sinnspruch des antiken römischen Dichters Publilius Syrus, der diesen wiederum aus dem Griechischen übersetzt hatte.
Mit dem Appell an Unvoreingenommenheit und Vorsicht passt der Spruch in Kants aufklärerische Philosophie, mit der er Menschen zu kritischem, rationalem Denken ermutigen wollte. So warnt uns Kant auch in seinem 300. Jubiläumsjahr noch vor Vorurteilen und mahnt zu kritischer Objektivität – etwas, das uns wohl besonders im wissenschaftlichen Alltag immer präsent sein sollte.
Literatur
- Richter, Günter; Malter, Rudolf: Das Stammbuch C. H. B. 1802(-12) mit einem Eintrag Immanuel Kants. In: Kant-Studien 72 (1981), H. 2, S. 161-169. Im Universitätsnetzwerk online verfügbar
- Moning, Silke Cecilie: Die studentischen Stammbücher des 18. Jahrhunderts. In: Aus mageren und aus ertragreichen Jahren. Hrsg. v. Irmgard Hort u. Peter Reuter. Gießen 2007 (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen; 58), S. 120-144. Online verfügbar