Learning by doing statt Frontalunterricht? Fieberhaft wird an Ideen gearbeitet, mit denen die junge Generation auf die wachsenden Herausforderungen der Klimakrise vorbereitet werden kann. Wäre nicht die Schule der perfekte Ort dafür? Und wie sieht es an der Uni aus? Ein Laborbericht.
„Liegt alles bereit?“ „Ja, du kannst jetzt die Säure drauf träufeln“. Vorsichtig nimmt die Schülerin die Pipette und benetzt nacheinander die vier in der Petrischale liegenden Proben – Granit, Schiefer, Holz und Kalk. „Man, das ätzt ja ganz schön weg. Schau dir mal den Kalk an.“ „Okay, was kommt als nächstes?“ „Noch ein Versuch, diesmal mit diesen grünen Aquarien.“ „Das soll der Ozean sein, das sieht man doch.“ „Ja klar. Jetzt beeil dich, wir haben nur noch 20 Minuten für diese Station und ich möchte unbedingt den Schlüssel für die Kiste erhalten.“
Szenen aus dem als Escape Room angelegten Schülerlabor Climate Escape des NaTLab Physik der JGU. Die vier Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse sind seit heute Morgen aktiv. Sie haben sich bereits erfolgreich durch vier Stationen gekämpft und mit Themen wie Albedo, Treibhausgaseffekt und Meeresspiegelanstieg beschäftigt. Im Moment versuchen sie sich an den Aufgaben zur Ozeanversauerung. Eine letzte Station zum Thema Nachhaltigkeit liegt noch vor ihnen. Werden sie es schaffen, der Klimakatastrophe zu entkommen?
Der Entwickler
Entwickelt wurde der Escape Room von Timo Graffe für seine Masterarbeit zum Thema Klimakrise. Der Lehramtsstudent für Physik und Geografie an der Uni Mainz ist schon länger in Sachen Klimaschutz aktiv. Erst engagierte er sich für Students for Future, später dann für Teachers for Future Mainz. Hier stieß er auch auf das Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung versteht man darunter „eine Bildung, die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt“ und es jedem Einzelnen ermöglichen soll, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen.
Mit seinem Podcast Schule neu Denken hat Timo sogar schon ein Interview mit Harald Lesch zum Thema geführt. Bei Planung, Programmierung und Bau des Escape Rooms zusammen mit Kommilitone Filip Sirrenberg konnte Timo vor allem eins mitnehmen: Wie unglaublich viel man lernt, wenn man mit anderen in einem Projekt zusammenarbeitet.
Der (Aktions)plan
Als die Betreuer seiner Abschlussarbeit am Institut für Physik ihm den Vorschlag machten zu promovieren, war Timo klar, dass für ihn nur der Bereich BNE infrage kommt. So entstand die Idee, ein eigenes Projektseminar zu erstellen. Mit diesem Zukunftsmodul will Timo die Einbindung der BNE in die universitäre Lehre verwirklichen. Ziel ist es, den Studierenden an der JGU ein fachübergreifendes Wahlpflichtmodul mit Fokus auf der Klimawandel-Thematik anzubieten, für das sie Creditpoints erhalten.
Bereits im Juni 2017 hat die Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung den Nationalen Aktionsplan (PDF) verabschiedet – den deutschen Beitrag zum UNESCO-Weltaktionsprogramm. 130 Ziele und 349 konkrete Handlungsempfehlungen sollen in den einzelnen Bildungsbereichen dazu führen, dass BNE überall in der deutschen Bildungslandschaft verankert wird. Den Hochschulen wird im Aktionsplan ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch in Rheinland-Pfalz spielt das Thema in verschiedenen Berichten, Leitlinien und Vereinbarungen eine wichtige Rolle. Ein Grund mehr für Timo, die Theorie endlich in die Tat umzusetzen.
Die Umsetzung
Im August 2021 gab es eine virtuelle Podiumsdiskussion zum Zukunftsmodul, bei der die Pläne vorgestellt wurden und sich auch Universitätspräsident Georg Krausch positiv dazu äußerte. Das Zukunftsmodul sieht zwei Lehrangebote vor. Neben der bereits seit 2019 jedes Semester stattfindenden einwöchigen Vorlesungsreihe Public Climate School, soll es das Projektseminar Klimawandel und Nachhaltigkeit geben.
Die Public Climate School ist ein digitales Bildungsangebot, organisiert von Studierenden der Fridays for Future-Bewegung in Zusammenarbeit mit anderen Expertinnen und Experten. Auch die Schulen sind mit eingebunden. Die in der Aktionswoche live ausgestrahlten Formate zu den Themen Klimakrise, Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit werden aufgezeichnet und können so auch später noch angeschaut werden. Die nächste Public Climate School findet vom 16. bis 20. Mai 2022 statt.
Neben dem bundesweiten digitalen Programm gibt es zusätzliche Aktionen direkt am Campus Mainz – mitinitiiert von den Students for Future Mainz. So rüsten Dozierende ihre Lehrveranstaltungen zu Klima-Themen um und im August 2021 gab es als Vorbereitung auf die Klimawoche die Climate Summer School mit verschiedenen Workshops und buntem Programm.
Das von Timo Graffe neu entwickelte Projektseminar Klimawandel und Nachhaltigkeit besteht aus drei Phasen. In der Instruktionsphase werden disziplinäre und interdisziplinäre Kenntnisse anhand von Blended Learning-Einheiten vermittelt. Anschließend folgt eine Projektphase, bei der Kleingruppen in teamorientierter Projektarbeit ihre Ideen in die Praxis umsetzen. So sollen sie zu eigenständigem Handeln befähigt werden. In der abschließenden Präsentationsphase stellen sie ihre Projekte der Öffentlichkeit vor.
Ausblick und Weitblick
Das Projektseminar soll erstmalig im Wintersemester 2022/23 stattfinden – mit 20 bis 30 Studierenden. Zunächst ist geplant, das Modul in ausgewählten Fachbereichen als Zusatzqualifikation zu testen. In den Lehramtsfächern Physik und Biologie wird derzeit die Möglichkeit besprochen, das Seminar als Wahlpflichtveranstaltung anzubieten.
Zur Politikwissenschaft und der Geografie gibt es bereits Kontakte, später sollen möglichst alle Fächer mit eingebunden werden. Zu entscheiden haben dies allerdings die einzelnen Fachbereiche selbst und da sind die Voraussetzungen für die Anrechnung von fachübergreifenden Seminaren teilweise sehr unterschiedlich. Leider ist es auch gar nicht so einfach, bestehende Lehrpläne zu ändern. Natürlich können Studierende auch rein aus Interesse an der Veranstaltung teilnehmen. Aber Ziel ist es, dass die Teilnahme am Projektseminar für das Studium angerechnet werden kann.
Das Zukunftsmodul hat bereits wichtige Unterstützerinnen und Unterstützer aus der Lehre. Neben Doktorvater Klaus Wendt, Professor der Experimentalphysik, betreut auch Sebastian Seiffert, Professor der physikalischen Chemie, das Projekt. Auch Dr. Ute Becker vom Fachbereich Biologie und Leiterin der Grünen Schule im Botanischen Garten der JGU sowie Volkmar Wirth, Professor für theoretische Meteorologie und atmosphärische Physik und Leiter des Instituts für Physik der Atmosphäre, unterstützen beratend.
Langfristig ist sogar eine Ausweitung auf andere Universitäten denkbar. Schon jetzt gibt es Interesse an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, das Projektseminar zu übernehmen. In Nürnberg plant man, ein für jeden Studierenden verpflichtendes Studium generale zum Thema Nachhaltigkeit einzuführen. Besonders kleinere Hochschulen sind auf diesem Gebiet sehr aktiv und können ihre Pläne meist schneller in die Tat umsetzen – einige verfügen schon über spezielle Lehrangebote oder Studiengänge. Beispiele dafür sind die Leuphana Universität Lüneburg mit eigener Fakultät Nachhaltigkeit und verschiedenen Forschungsprojekten oder die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde mit einem eigenen Forschungszentrum zum Thema Nachhaltigkeit.
Die Hürden
Wie immer hängt alles am Geld. Timo Graffe verfügt seit diesem Jahr immerhin über eine halbe Stelle für die Projektarbeit. Davor konnte er sich nur nebenbei damit beschäftigen, war als PES-Kraft an einer Schule und mit zusätzlichen Hiwi-Jobs schon ziemlich ausgelastet. Der Promotionsstudent leitet und koordiniert das Zukunftsmodul, benötigt aber weitere Unterstützung bei der Durchführung. Daher hat er im Finanzierungsantrag an das Gutenberg Lehrkolleg (GLK) auch Mittel für studentische Hilfskräfte beantragt. Das GLK fördert insbesondere innovative Lehrideen von Lehrenden und Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen. Auch Veranstaltungen an der JGU im Rahmen der Public Climate School wurden bereits finanziell unterstützt.
Die im Mai 2021 neu gegründete Dres. Göbel Klimastiftung hat unter bestimmten Voraussetzungen bereits 2.500 Euro für Sachmittel in Aussicht gestellt. Diese sollen vor allem für die Durchführung klimagerechter Projekte verwendet werden. Denn die Praxiserfahrung bildet das Herzstück des Zukunftsmoduls. Studierende sollen sich nicht nur in einer Vorlesung berieseln lassen, sondern selbst erleben, was es heißt, für das Klima aktiv zu werden.
Natürlich gibt es viele weitere Ideen und Anstrengungen, um an Fördergelder zum Beispiel auch des Landes zu gelangen. Leider kann man diese in Rheinland-Pfalz bisher nicht direkt für BNE-Projekte abrufen wie etwa in Nordrhein-Westfalen, wo dafür jährlich bis zu 200.000 Euro vorgesehen sind. Projektleiter Timo Graffe hat zusätzlich Kontakt mit dem BNE-Referenten des Bildungsministeriums RLP sowie dem Referenten für Nachhaltigkeit an Hochschulen im Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit RLP aufgenommen. Das Interesse ist auf jeden Fall da, vielleicht klappt es auch noch mit einer Förderung.
Die Zukunft
Im NaTLab Physik ist wieder Ruhe eingekehrt, noch zeugen die Überreste der Versuche von dem Trubel, der hier vor kurzem herrschte. Die Schülerinnen und Schüler der 9a haben ihren Projekttag im Escape Room erfolgreich beendet. Dabei haben sie nicht nur verschiedene Experimente durchgeführt und einige Rätsel geknackt, sondern auch eine ganze Menge über den Klimawandel und dessen Folgen gelernt und auch ihr eigenes Klimaverhalten reflektiert. Ob sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit in den Alltag übernehmen werden?
Auch die Studierenden an der JGU sollten die Chance erhalten, im Laufe ihres Studiums aktiv mit dem Thema Nachhaltigkeit in Berührung zu kommen. Zwar hat das Zukunftsmodul zunächst noch Projektcharakter, doch es ist Timos großer Wunsch, dieses fest im Curriculum der JGU zu verankern. Sogar eine verpflichtende Veranstaltung in diesem Bereich wäre denkbar, zumindest aber sollten alle Studierenden die Möglichkeit erhalten, es als anrechenbares Wahlpflichtfach zu belegen.
Eine erste Hürde ist genommen – Mitte Februar kam die offizielle Zusage vom GLK! Nun kann das Projekt starten. Aber Timo Graffe hat noch viele weitere Ideen. Wäre es zum Beispiel nicht klasse, ein bundesweit geltendes Nachhaltigkeitszertifikat einzuführen, das bei Kursteilnahme verliehen und auch an anderen Hochschulen anerkannt wird? Vor allem bei einer Sache ist sich Timo aber schon jetzt sicher: Egal was er in Zukunft machen wird, Hauptsache BNE!
Was haltet Ihr von der Idee, BNE in die Lehre der JGU einzubinden? Würdet Ihr gerne so ein Seminar besuchen? Schreibt uns!
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Ina Kießling ist Bibliothekarin und arbeitet an der UB Mainz im Bereich Informationskompetenz. Ihr Schreibtisch steht in der Bereichsbibliothek TSK in Germersheim.