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Universitätsbibliothek Mainz

30.10.2020

Gute Sprachen, schlechte Sprachen: Türkisch in Deutschland

Jedes fünfte Kind in Deutschland spricht zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Das geht aus einer aktuellen Antwort des Bundesfamilienministeriums auf eine Anfrage der FDP hervor. Dass Mehrsprachigkeit eigentlich eine Bereicherung und Chance für die Gesellschaft darstellt, scheint man schnell zu vergessen, wenn besagte Sprachen nicht etwa Französisch oder Spanisch sind. Sprachen wie Arabisch, Persisch, Türkisch werden als Integrationshemmnis wahrgenommen und problematisiert. Damit muss Schluss sein. Einen kleinen Anfang macht man jetzt am Fachbereich 06 in Germersheim.

Als in den 1960er-Jahren die ersten sogenannten türkeistämmigen Gastarbeiter an den Bahnhöfen der Republik ankamen, brachten sie neben dem, was in ihren überschaubaren Gepäckstücken verstaut war, noch etwas ganz Besonderes mit: ihre Sprachen, insbesondere die türkische Sprache. Doch warum wurde dieser kulturelle Schatz so lange ignoriert und blieb in den Koffern verstaut?

Die Menschen, die fortan mit diesem wertvollen Gepäck die Bundesrepublik aufbauen sollten, wurden als schiere Arbeitskräfte gesehen, die gekommen waren, um wieder zu gehen. Auch deswegen hielt sich das Interesse an den miteingewanderten Sprachen in Grenzen. Rassismus und Vorbehalte gegenüber diesen neuen Kulturen und Sprachen gab es von Anfang an. Sie grassierten auch unter Mainzer Professoren: Einige von ihnen, Peter Manns, Kurt Schürrmann und Ferdinand Siebert, unterzeichneten beispielsweise in den 1980er-Jahren das sogenannte Heidelberger Manifest. Hierin liest sich: „Die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer ist ohne Gefährdung des eigenen Volkes, seiner Sprache, Kultur und Religion nicht möglich.“ Die hohen Wellen, die das Manifest schlug, veranlassten den Präsidenten der JGU, Manfred Harder, im Januar 1982 zu einer Stellungnahme, in der er sich klar von den rassistischen Aussagen distanzierte. Allerdings war auch er nicht ganz frei von den Vorurteilen des damaligen Zeitgeistes: „Doch reden wir nicht nur von ausländischen Professoren. Es wäre zynisch, zwischen der türkischen Putzfrau und dem englischen Physiker aus Oxford feinsinnig zu unterscheiden.“

Von der Fabrik in den Hörsaal

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Türkeistämmige Migrantinnen und Migranten wurden seit ihrer Ankunft mitsamt ihren Kulturen und Sprachen marginalisiert. Daran änderte sich auch kaum etwas in den folgenden Jahrzehnten: Während klassische, angesehene Fremdsprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch sich größter Beliebtheit erfreuten und Bestandteil jedes Lehrplans bis hin zum Hochschulstudium sind, werden Einwanderungssprachen bestenfalls stiefmütterlich behandelt.

Im schlimmsten Fall sogar stigmatisiert und auch mal ganz gerne von Schulhöfen verbannt. Türkisch und Arabisch als institutionalisierte Bildungssprachen in Deutschland? Kaum zu finden. Am mit Abstand internationalsten Fachbereich der JGU soll nun ein neues Kapitel aufgeschlagen werden: Bisher konnte man am FTSK ausschließlich Türkischsprachkurse auf A1-Niveau und auch Lektüre- und Textkompetenzkurse auf Fortgeschrittenenniveau belegen. Ab dem Wintersemester 2020/21 wird es zum ersten Mal möglich sein auch Türkisch und Arabisch im Rahmen des Bachelorstudiengangs Sprache, Kultur und Translation als erste, zweite oder dritte Fremdsprache am FTSK in Germersheim zu studieren. Gleichgestellt mit den bisherigen Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch, Neugriechisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch.

Damit beherbergt der Campus in der Pfalz deutschlandweit den einzigen translationswissenschaftlichen Studiengang und füllt eine Lücke im deutschen Hochschulwesen, die schon vor Jahrzehnten hätte geschlossen werden müssen. Der neue Bachelorstudiengang richtet sich sowohl an Interessierte ohne Vorkenntnisse als auch an Studierende, die Türkisch etwa von zu Hause kennen und ein professionelles Übersetzungsstudium erhalten möchten. In diesem Sinne nimmt die JGU eine Vorreiterrolle in einem Zustand des generellen Hinterherhinken in Deutschland ein.

Sag‘ mir, welche Sprachen du sprichst und ich sag‘ dir, wer du bist!

Warum es 60 Jahre dauerte, bis eine der hierzulande meistgesprochenen Sprachen nach Deutsch von den Fabrikhallen der Republik Einzug in eines der renommiertesten Translationsinstitute Europas hält? (Fremd-)Sprache ist nicht gleich (Fremd-)Sprache. Migrationssprachen werden nicht als kulturelles oder wirtschaftliches Kapital wahrgenommen, selten sind sie positiv konnotiert, der Mehrheitsbevölkerung, wenn überhaupt, nur als „Integrationshemmnis“ ein Begriff. Konzepte wie Zweisprachigkeit beispielsweise werden erst seit kurzem im Kontext von Migrationssprachen verwendet. Die damals zweijährige Tochter von Prinz William machte 2018 Schlagzeilen, weil sie neben Englisch auch Spanisch sprach. Sprecherinnen und Sprecher, die aufgrund von Migrationsgeschichten weitere Sprachen beherrschen, werden selten als zweisprachig wahrgenommen oder erfahren für diese Leistung kaum Anerkennung.

Das erlebe ich auch persönlich: Ich werde stets für meine Kenntnisse in den typischen Fremdsprachen gelobt, aber dass ich auch Türkisch spreche,„zählt ja nicht“. Ehrlich gesagt, war es mühsamer mein Türkisch auf ein standardsprachliches Niveau zu hieven, gerade weil es in Deutschland an entsprechenden Bildungsangeboten fehlt. Während ich Französisch ohne Schwierigkeiten in der 5. Klasse als erste Fremdsprache wählen und mir aussuchen konnte, an welcher Universität ich Konferenzdolmetschen mit Französisch studiere, musste ich ein außerplanmäßiges Auslandssemester in Istanbul einlegen, um in den Genuss von Türkischdolmetschkursen zu kommen.

Dass der Status einer Sprache unweigerlich mit dem sozio-ökonomischen Status ihrer Sprecherinnen und Sprecher zusammenhängt, lässt sich auch deutlich am Beispiel des Spanischen festmachen: Diese romanische Sprache ist in Deutschland eine gern gewählte und beliebte Fremdsprache, die man vorranging mit Urlaub, rhythmischer Musik und Entspannung assoziiert. In den USA, wo im Gegensatz zu Deutschland eine bedeutende spanischsprechende Diaspora beheimatet ist, wird sie in gewissen US-amerikanischen Kreisen verpönt, als Provokation wahrgenommen, hispanophone Menschen werden rassistisch beleidigt, wenn sie im öffentlichen Raum Spanisch sprechen.

Gekommen, um zu bleiben

Zurück nach Deutschland: Zwar ist die Institutionalisierung des Konzepts „Deutschland als Einwanderungsland“ noch nicht vollbracht, doch fand und findet akademischer Austausch zwischen Deutschland und der Türkei auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenster Art und Weise statt. Mainzer Studierenden ist es über das Erasmus-Programm möglich, an 34 türkischen Partneruniversitäten einen Auslandsaufenthalt zu absolvieren und im Wintersemester 2018/19 waren knapp 100 Studierende aus der Türkei in Mainz eingeschrieben.

Es ist ein gutes Zeichen, dass der Fachbereich 06 auch das Potenzial des Arabischen – vor allem nach vermehrter Migration arabischsprachiger Menschen nach Deutschland seit 2015 – erkannt hat. Es wäre doch zu schade gewesen, hätte man wieder ein halbes Jahrzehnt ins Land ziehen lassen, bevor man formale Bildungsangebote für das Arabische geschaffen hätte. Es scheint so, als hätte die arabische Sprache ihre Koffer zumindest in Germersheim auspacken dürfen.

In diesem Sinne: hoşça kalın!