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Universitätsbibliothek Mainz

28.01.2019

Les Bleusailles: eine Tradition spaltet die Campus Belgiens

Belgien. Wie lebt und studiert es sich in einem Land, das für die Regierungsbildung auch schon mal länger braucht als der Irak? Das nicht nur für sein Bier, seine Schokolade und seine Fritten bekannt ist, sondern auch für den ewigen Clinch seiner Sprachgemeinschaften? Hier blogt Filiz, live and direct aus Mons.

Neben den ungewohnt anmutenden roten Backsteinhäusern, den Verkehrsschildern, die Radfahrerinnen und Radfahrer explizit dazu berechtigen, in entgegengesetzter Richtung in eine Einbahnstraße zu radeln, hält das Monser Stadtbild eine weitere Kuriosität bereit: les bleus (die Blauen). Und nein, damit meine ich nicht die französische Fußballnationalmannschaft… Das ist übrigens ein heikles Thema hier, die Zeit heilt eben wirklich nicht alle Wunden, denn die Enttäuschung der belgischen Fans sitzt noch tief.

Ersti ist nicht gleich Ersti: Fresse zum Boden, bleus!

Les bleus sind Erstis, die sich über mehrere Wochen hinweg Mutproben und Aufgaben stellen, der sogenannten baptême (Taufe), um abschließend in einem cercle (Kreis) aufgenommen zu werden. Jede belgische Uni beherbergt solche Studierendenvereinigungen und die baptême, die man auch bleusaillesnennt, ist hierfür die Eintrittskarte.

Die ersten Taufen gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. Studenten der Universität Löwen hatten sich damals zu Kreisen zusammengeschlossen, um sich gegenseitig vor Diebstählen und Überfällen zu schützen. Da diese Zusammenschlüsse aber immer wieder infiltriert wurden, beschloss man Neulinge Prüfungen zu unterziehen. Bis heute sind diese Initiationsrituale integraler Bestandteil der belgischen Studierendenkultur. Ein sehr kontrovers diskutierter noch dazu. Denn um den Status der bleus hinter sich zu lassen und gegen jenen des baptisé einzutauschen, müssen die Erstis einiges über sich ergehen lassen. Ein erheblicher Teil der bis zu drei Monate andauernden Taufe findet im Verborgenen statt und den Neulingen ist es auch nicht erlaubt, über die Prüfungen zu reden. Einige Rituale werden hingegen in aller Öffentlichkeit vollzogen, so hört man dieser Zeiten in ganz Belgien den Schlachtruf "Gueule en terre, bleus!" (sowas wie "Fresse zum Boden"). Sobald die blaugekleideten bleus dieses Kommando hören, heißt es, auf die Knie, Kopf einziehen, Hände in die Luft recken und mit den Händen wedeln. Erst wenn die comitards (Leiter einzelner Zirkel) die Parole "Satis" (von Satisfaktion) lassen, dürfen die Blauen sich wieder aufrichten.

Während die Verfechterinnen und Verfechter der baptême argumentieren, dass die Taufe die Studis zusammenschweiße, ihnen Lektionen für das weitere Leben mit auf den Weg gebe und der Charakterbildung nur förderlich sei, fordern kritische Stimmen ein Verbot bzw. schärfere Gesetze, da die baptême die körperliche und seelische Unversehrtheit der bleus antaste.

In der Tat machen die bleusailles jedes Jahr aufs Neue landesweit negative Schlagzeilen mit aus dem Ruder gelaufenen Prüfungen: exzessiver Alkoholkonsum, sexualisierte Gewalt und Autoritätsmissbrauch fordern immer wieder Todesopfer. So auch letzten November an der Universität Lüttich (Liège), wo ein bleu nach einer Prüfung zusammenbrach. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Hirntod festgestellt werden. Die Maschinen wurden mittlerweile abgeschaltet.

Ein harmloses Foto?

Gruppe von Studierenden
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Auch in Mons gibt es an fast jedem Fachbereich einen cercle, der berühmt berüchtigtste ist sicherlich jener der Ingenieurwissenschaften der Uni Mons. Vor kurzem wurde ich unfreiwillig Zeugin von dem rauen Ton, der Unterwürfigkeit und Erniedrigung, auf den die comitardssetzen, um die bleus gefügig zu machen. Es ist ihnen beispielsweise verboten, den bereits getauften Studis in die Augen zu schauen. So erhalten die bleus ihre Befehle mit gesenktem Kopf und nicken alles ab. Bei einer Stadtrallye, an der ich teilgenommen habe, sollten wir ein Bild mit den bleus oder ihren comitards machen. Als mein Team auf eine blaue Menschentraube vor dem Rathaus stieß, baten wir den comitard darum, sich mit auf unser Foto zu stellen. Stattdessen rief er eine Studentin zu sich, die, natürlich ohne jeglichen Augenkontakt, von ihm den Auftrag erhielt, als Fotomodell zu posieren und das zu machen, was wir von ihr verlangten. Natürlich war es nur ein harmloses Foto, aber ich habe mich schlecht gefühlt, dass mein Team ungewollt zur Taufe und ihren, in meinen Augen, grotesken Praktiken beigetragen hat.

Ihr wollt Freundschaften fürs Leben, Solidarität und Hilfsbereitschaft?

Die Getauften betonen immer wieder, dass alles auf Freiwilligkeit beruhe, dass man jederzeit aussteigen könne und dass es nun mal eine Tradition sei, die es zu bewahren gelte. Mir hat allerdings gereicht, was ich vor dem Monser Rathaus gesehen und vor allem gefühlt habe, da braucht es die regelmäßig aufkommenden Horrorstories von aus dem Ruder gelaufenen Saufgelagen, Körperverletzungen und Traumata nicht. Gehorsam und Unterwürfigkeit, Machtmissbrauch – das hat für mich nirgends seinen Platz, schon gar nicht an der Uni. Ihr wollt Freundschaften fürs Leben, Solidarität und Hilfsbereitschaft? Gern. Aber nicht so! Und mit dieser Meinung bin ich nicht allein. Die belgischen Studis mobilisieren sich jedes Jahr aufs Neue, um sich für ein Verbot der baptême stark zu machen. Doch es sieht nicht danach aus, als würde die Politik eine Entscheidung in der nahen Zukunft fällen. Die bleusailles spalten und polarisieren: entweder man ist dafür oder dagegen — ein Dazwischen gibt es nicht.