Universitäten rund um den Globus werden immer wieder zum Schauplatz und Austragungsort gesellschaftlicher Kämpfe. Mal geht es eher friedlich, mal etwas beherzter zu. Wie gestaltet sich studentischer Protest aber, wenn man es mit einem autoritären Regime zu tun hat? Ganz einfach: Man wird kreativ.
Eine Istanbuler Literaturstudentin, die lieber anonym bleiben möchte, bestätigt mir, dass eher unkonventionelle Protestformen nötig sind, um der staatlichen Propaganda nicht die Bilder zu liefern, die in das Narrativ von der „staatszersetzenden“ Studierendenschaft passen. Das ist besonders im Falle der Boğaziçi Universität ein bewährtes Mittel, auf das seitens der regierungsnahen Medien und Politikerinnen und Politikern zurückgegriffen wird, weil die Universität einen sehr libertären und oppositionellen Ruf hat.
Auf den Grünflächen des Südcampus der am Bosporus gelegenen Universität herrscht an diesem sonnigen Januartag reges Treiben, trotz Pandemie. Was auf den ersten Blick wie ein geselliges Beisammensein von fahnenschwingenden, singenden jungen Menschen aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Studierendenprotest gegen Melih Bulu, dem neuen Rektor der am Bosporus gelegenen Bildungseinrichtung.
Hiobsbotschaft zum neuen Jahr
Das neue Jahr war kaum einen Tag alt, da brachen schlechte Nachrichten über die Studierenden der Istanbuler Boğaziçi Universität herein. Per Notstandsdekret hatte der türkische Staatspräsident, Recep Tayyip Erdoğan, einen neuen Rektor ernannt, der die Leitung der renommierten und liberalen Hochburg übernehmen sollte. Damit reiht sie sich in die traurige Liste von Hochschulen landesweit ein, an denen regierungsnahe Leitungen eingesetzt wurden. Auch die Regierungen anderer Länder beschneiden die akademische Selbstverwaltung. So wehren sich Studierende der ungarischen Universität für Theater- und Filmwissenschaft (SZFE) in Budapest seit September 2020 gegen die Einsetzung einer neuen Leitung durch die ungarische Regierung.
Auch in Istanbul formierte sich schnell der Widerstand. Über die sozialen Netzwerke und unter Hashtags wie #KayyumRektörİstemiyoruz (Wir wollen keinen Zwangsverwalter-Direktor) oder #BoğaziçiDireniyor (Boğaziçi leistet Widerstand) organisierten sich die Studierenden und riefen zu Kundgebungen vor ihrer Hochschule auf. Auf das enorme Aufgebot von Polizei- und Sicherheitskräften, die Schlagstöcke, das Versperren der Campustore mit Handschellen, die nächtlichen Razzien und Festnahmen und die Terrorismusvorwürfe antworten die Studierenden auf sehr kreative Art und Weise. Und damit befinden sie sich in bester Gesellschaft: An der ungarischen SZFE etwa bildeten rund 15.000 Menschen eine Solidaritätskette, die sich von der Universität bis zum Parlament schlängelte und über die die Uni-Charta weitergereicht wurde. Solidaritätsbekundungen mit den Studierenden in Istanbul gab es weltweit, auch am Fachbereich 06 in Germersheim. Generell findet man auch in der Geschichte der JGU die ein oder andere tumultuös-kreative Episode.
Wenn das Regime dir Zitronen gibt, mach ein Lied daraus und geh’ an den Strand
In Chile ließen sich protestierende junge Menschen auch Einiges einfallen: Als sie 2011 für kostenlose Bildung zu Hundertausenden auf die Straßen strömten, gaben sie vor dem Präsidentenpalast einen Flashmob zum Lied Thriller von Michael Jackson zum Besten. Oder als der Bildungsminister entschied, kurzerhand die Winterferien vorzuverlegen, in der Hoffnung, die Proteste würden so abebben. Ihm wurde wohl klar, dass seine Taktik nicht aufgegangen war, als er sah, wie auf der Plaza de Armas in Santiago de Chile Protestierende Badetücher auspackten und den Platz in einen Strand verwandelten.
Im sommerlich anmutenden Istanbul bleibt die Strandausrüstung zwar zu Hause, dafür sorgt der eingesetzte Rektor Melih Bulu selbst für Content: Um sich die Sympathien „seiner“ Studierenden zu sichern, gab er in einem Fernsehinterview bekannt, ein Direktor zu sein, „der Hard Rock, und Metallica hört“. Das ließen sich die jungen Menschen nicht zweimal sagen. Am nächsten Tag dröhnte Metallicas Master of Puppets (Meister der Marionetten) aus den Lautsprechern über den Campus. Musik als Instrument des Protests und Auflehnens hat in der Türkei Tradition, die sich auch in den aktuellen Protesten fortsetzt. Die Musikgemeinschaft der Boğaziçi Universität hat kurzerhand das Lied Yuh, Yuh! (Buh, Buh!) der bekannten Musikerin Selda Bağcan umgeschrieben:
„Hier gibt es keinen Platz für den von oben eingesetzten, für den nicht gewählten Zwangsverwalter, für denjenigen, der plagiiert und dann Professor wird, der die Universität für ein Unternehmen hält. Buh, buh, buh! Für denjenigen, der ausraubt, der sich bereichert und dann wegrennt, der das Eingangstor meiner Universität in Handschellen legt, buh!“
(Yukarıdan tepeden kayyum olana, secilmemiş rektörlere burada hiç yer yok, intihal yapıp da hoca olana, üniversiteyi de şirket sananlara yuh, yuh yuh! Yuh soyanlara, soyup kacıp doyanlara okulumun kapısına yuh kelepçe vuranlara yuh!)
Terroristen? Nein, Trauergäste!
Die türkischen Studierenden wollen auch verhindern, dass ihr Widerstand allzu leicht seitens der Regierung kriminalisiert und als Terrorismus diffamiert werden kann. Für ihren Protest machen sie sich kurzerhand ein süßes Stückchen türkischer Sepulkralkultur zunutze: Halva.
Auf Beerdigungen in der Türkei ist es gang und gäbe, die Süßspeise Halva unter den Trauernden zu verteilen. Um symbolisch den Tod des Direktorats zu beweinen, bereiteten die Studierenden am achten Tag des Protests vor dem Gebäude des Rektors das Gemisch aus Sesamsamen, Zucker und Honig zu. Indem sich die Studierenden also kultureller Codes, wie der Halvazubereitung bedienen, senden sie unterschwellig die Botschaft, „ganz normale“ Mitbürgerinnen und Mitbürger zu sein, die berechtigte demokratische Anliegen vertreten.
Natürlich werden diese Bilder nicht in den regierungstreuen Medien gezeigt, sondern verbreiten sich fast ausschließlich über die sozialen Medien, wie Twitter, das in der Türkei zu einer verlässlicheren Nachrichtenquelle geworden ist. Und selbst hier müssen die Studierenden wachsam sein, die Diskurshoheit nicht zu verlieren: Das selbstgedrehte Video zu dem umgeschriebenen Protestlied Yuh, yuh zeigt unter anderem eine Nahaufnahme einer singenden Studentin. Weil sie ein Kopftuch trug, versuchten regierungsnahe Accounts die junge Frau zu verunglimpfen. Sie behaupteten, sie sei gar keine Boğaziçi-Studentin und nur aus Imagezwecken für den Videodreh eingeladen worden, um konservativere Bevölkerungsteile anzusprechen. Das ist besonders perfide, wenn man bedenkt, dass die Studierendenschaft der Universität sehr heterogen zusammengesetzt ist und das auch zu ihrem Selbstverständnis gehört.
Hausmusik statt Straßenkonzert
In der analogen Welt muss sich der Protest mit weniger subtilen Angriffen auseinandersetzen. Wie verschafft man sich Gehör, wenn die Coronapandemie als Vorwand benutzt wird, ausgerechnet über die an die Universität angrenzenden Viertel Beşiktaş und Sarıyer ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot zu verhängen? Tagsüber weicht die Protestbewegung in andere Viertel der Bosporusmetropole aus, ins oppositionelle Kadıköy am asiatischen Ufer beispielsweise.
Nicht in Asien, sondern in Südamerika, nahm eine Form der Demonstration ihren Anfang, die den Studierenden der Boğaziçi Universität eine Möglichkeit bietet, trotz Versammlungsverbots ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen: In den Siebzigerjahren ging in Chile nicht nur das Gespenst des Kommunismus um, sondern auch ein Heer von Hausfrauen. Ihre einzige Waffe im Protest gegen die Regierung des Präsidenten Allendes war der „Cacerolazo” – mit Kochgeschirr trommelte man auf leere Töpfe, die für die Lebensmittelrationierungen und Nahrungsmittelknappheit standen. Der „Cacerolazo” fand seitdem immer wieder Verwendung, etwa um gegen die Diktatur Pinochets zu demonstrieren. Oder gegen die politische Einmischung in die universitäre Selbstverwaltung der Boğaziçi Universität. Jeden Abend um 21 Uhr wird in Universitätsvierteln Istanbuls mit diversen Küchenutensilien möglichst viel Krach von zu Hause aus gemacht – und das klingt schon wieder mehr nach Metallica. Das müsste doch dem Musikgeschmack des neuen Rektors entsprechen?
Die kreativen Proteste schützen die Studierenden aber nicht vor der eisernen Hand des türkischen Staates: Die Literaturstudentin, mit der ich mich vor ein paar Tagen noch ausgetauscht hatte, antwortet mir nicht mehr. Sie wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen.