Hungerstreik - kein besonders vergnügliches Wort. Und überhaupt: Was hat das mit der Uni Mainz zu tun? Eine Menge! An der JGU kam es bereits zu mehreren Hungerstreiks. So auch im Mai 1968, als es zu einem der aufsehenerregendsten Proteste der Mainzer Studierendenbewegung kam. Doch warum griffen die Demonstranten zu so einer drastischen Maßnahme? Was wollten sie damit bewirken?
Pyjamaparty oder doch extremer passiver Widerstand?
Auf meiner Spurensuche stoße ich zuerst auf ein Foto aus den Beständen des Uniarchivs. Als ich mir das Bild der ESG (Evangelische Studierendengemeinde) aus dem Mai 1968 anschaue, erinnert es mich zunächst an eine Pyjamaparty. Zahlreiche Studierende haben sich in der ESG eingenistet, haben ein Matratzenlager errichtet. Weil das Foto aus dem Jahr 1968 stammte, ist mein zweiter Gedanke, dass es sich vielleicht um eine Besetzung handeln könnte. Doch die Studierenden griffen damals zu noch viel krasseren Mitteln: 18 Studierende sowie ein Lehrling gingen am 22. Mai in den Hungerstreik. Durch die bewusste Verweigerung der Nahrungszufuhr wollten sie auf – nach ihrer Ansicht – gravierende politische Missstände aufmerksam machen. Doch wie ist es eigentlich dazu gekommen?
Wie wir bereits berichtet haben, spitzten sich im Frühling ’68 in Mainz die politischen Proteste zu. Immer mehr Studierende gingen auf die Straße und demonstrierten, nicht zuletzt gegen die Notstandsgesetze, die demnächst verabschiedet werden sollten. Sie befürchten, dass eine neue faschistische Diktatur unmittelbar bevorstünde. Bereits im Vorfeld des Hungerstreiks kündigte die ESG diesen aufgrund der anstehenden Grundgesetzänderung an. Das Flugblatt unterzeichneten mehreren Studis – darunter ein Vorstandsmitglied des SDS und der damalige Politikreferent des AStA – aber auch zwei Studierendenpfarrer.
Akademische Bürger hört die Signale!
Ort des Geschehens: das Albert-Schweitzer-Haus der ESG. Der Streikbeginn war auf 9 Uhr am 22. Mai festgelegt, also noch vor der angesetzten Vollversammlung, die über den Vorlesungsstreik am 27. Mai abstimmen sollte. Die Organisatoren wollten den Forderungen der Studierenden so noch mehr Gewicht und Gehör verschaffen, gleichzeitig aber auch die Studierendenschaft dazu bewegen, für einen Generalstreik an der Uni zu stimmen. Ziel war es, Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. In diesem Fall der Senat der JGU, der sich mit den Demonstrierenden solidarisch zeigen sollte.
Die Streikenden verteilten Flugblätter mit Appellen an alle Angehörigen der Uni, „an der Vorbereitung und Durchführung des Widerstands gegen die NS-Gesetze“ teilzunehmen. Sie verlangten, dass speziell auch die Professorenschaft sich mit ihnen solidarisch zeigte. Die Studis kritisierten, dass „sich erst wenige Professoren dazu bereitgefunden [hätten], mit […][ihnen] über die einschneidenste Grundgesetzänderung seit Bestehen der Bundesrepublik zu diskutieren.“
„Debatte auf der Sprudelkiste“
Die Streikenden gewannen aber auch weit über die Unigrenzen hinweg große Aufmerksamkeit. So folgten nicht nur einige Professoren ihrer Einladung zu einer etwas ungewöhnlichen Diskussionsrunde. Bei dieser „Debatte auf der Sprudelkiste“ am 25. Mai bewiesen auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Wilhelm Dröscher und der damalige Mainzer Oberbürgermeister Jockel Fuchs Sitzfleisch. Der Hungerstreik sorgte darüber hinaus für ein (lokales Medien-)Echo, u. a. in der Mainzer Allgemeinen Zeitung. Zudem gingen rund 100 Solidaritätstelegramme bei den Studis ein, z. B. von dem Autor Erich Fried. Eine Arzthelferin aus Karlsruhe schloss sich den Streikenden sogar an.
Zwei Tage nach dessen Beginn, wurde der Streik schließlich in der außerplanmäßigen Senatssitzung am 24. Mai thematisiert. Der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Manfred Mezger, berichtete von einem Gespräch mit den Hungerstreikenden. Der Professor war guter Dinge, dass die Studis „ihren Streik abbrechen würden, wenn der Senat zu erkennen gäbe, daß er für die Gründe der Hungernden Verständnis habe.“ Daher sollte die Genehmigung des Vorlesungsstreiks durch den Senat umgehend den Protestierenden mitgeteilt werden. Das Gremium hoffte, dass sie so zu einer Beendigung ihres Protests bewegt werden könnten.
Christen als Revoluzzer?
Auf den ersten Blick überrascht es mich ziemlich, dass der Protest von der ESG und nicht vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) organisiert wurde. Schließlich war der SDS die zentrale Gruppierung der 68er-Bewegung! Doch die Protestform sorgte beim Mainzer SDS für Diskussionen zwischen Pazifisten und den Anhängern militanter Aktionen. Letztlich folgten nur vier SDSler dem Streikaufruf, darunter die damalige Medizinstudentin Ute Wellstein, die hier – wenn auch leicht abweichend von den tatsächlichen Geschehnissen – eindrücklich von ihren Erlebnissen berichtet.
Dennoch ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Streik in der ESG stattfand. So sprach sich die ESG schon im Vorfeld häufig gegen die Notstandsgesetze aus. Aus ihrem Kreis war 1966 sogar die Aktionsgemeinschaft gegen die Notstandsgesetze mitbegründet worden. Der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener berichtet, dass „[d]ie Evangelische Hochschulgemeinde in Mainz mit ihrem Albert-Schweitzer-Haus […] zu einem regelrechten Veranstaltungs- und Aktionszentrum des studentischen Protestes“ wurde.
Für die eigene Überzeugung die eigenen Grenzen sprengen
Bei meinen Recherchen stoße ich auf weitere Hungerstreiks: Der Streik vom Mai ’68 war bei weitem nicht der letzte an der JGU und auch nicht in der ESG! 1988, fast genau 20 Jahre später, gingen 40 iranische Studierende in einen unbefristeten Hungerstreik. Auslöser: Der tobende iranisch-irakische Krieg. Ihr Protest richtete sich gegen die Lieferung von Waffen und Kriegsmaterial an die beiden Kriegsparteien. Sie hielten ganze 15 Tage durch und sorgten ebenfalls für ein breites Medienecho. Aber dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.
Und der 68er Hungerstreik? Der endete nach fünf Tagen am Tag des Vorlesungsstreiks, am 27. Mai – hierzu erfahrt ihr mehr von meinem Kollegen am Sonntag. (Ja, wir vom Uniarchiv sind allzeit bereit!) Zwei der Streikenden mussten im Anschluss ins Krankenhaus eingeliefert werden. Vier weitere mussten bereits vorzeitig ihr Fasten einstellen: Dreien drohte die „unmittelbare Bewusstlosigkeit“, bei einem bestand der Verdacht auf Lungenentzündung. Auch wenn sie die Verabschiedung der Notstandsgesetze nicht verhindern konnten, hatten die Studis dennoch etwas erreicht: Sie konnten mit Professoren und sogar mit Politikern diskutieren und ihrer Angst vor einer erneuten deutschen Diktatur weit über die Grenzen der JGU Gehör verschaffen.
Am Ende meiner Recherche denke ich nun über die Frage nach, wie weit ich selbst für meine eigene politische Überzeugung gehen würde… Aber erstmal gehe ich in die Mensa!
Wenn ihr mehr über die Rolle der christlichen Hochschulgemeinden in der Mainzer 68er-Bewegung erfahren wollt, dann schaut doch beim Vortrag „ESG und KHG Geschichte: Mainz 1968“ von Professor Michael Kißener am 29. Mai in der KHG vorbei. Dort wird es im Anschluss auch eine Diskussionsrunde mit Zeitzeugen geben. Ich bin auf jeden Fall am Start – und freue mich auf euch!
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Stefanie Martin arbeitet in der Bereichsbibliothek MIN.