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Universitätsbibliothek Mainz

01.06.2018

Germersheim 1968: Ein bisschen Revolution, ein bisschen Translation

Wir schreiben das Jahr 1968 n. Chr. Auf der ganzen Welt gehen Studentinnen und Studenten auf die Straßen, um ihren Forderungen nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen Gehör zu verleihen. Auf der ganzen Welt? Ja! Denn sogar im gemütlichen Germersheim formierte sich der Protest - wohin wir unseren Blick im letzten Artikel unserer Mai-1968-Reihe richten wollen.

Im April 1968 gingen hier rund 75 Studierende auf die Straße, um den Mordanschlag auf Rudi Dutschke, dem schillernden Berliner APOler, zu verurteilen. Nur so wenige? Immerhin 10% der Studierendenschaft, meint Wilfried Becker, ein ehemaliger Germersheimer Student. Man müsse hier den Germersheimer Kontext berücksichtigen. Das Auslands- und Dolmetscherinstitut (ADI) zählte damals nur ca. 750 Studierende, weswegen die Zahl der potenziell mobilisierbaren Menschen weitaus geringer als am Campus in Mainz war. Dort versammelten sich rund 200 Teilnehmer zu einem Schweigezug durch die Innenstadt sowie einer Kundgebung auf dem Theaterplatz.

Ludwigsplatz in Germersheim
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Freibier für alle: Ludwigsplatz in Germersheim heute

Was die Kritik an der als reißerisch und hetzerisch empfundenen Berichterstattung der Bildzeitung angeht, konnte Germersheim mit Städten wie Frankfurt und Mainz mithalten: Auf der oben erwähnten Demonstration verbrannten Germersheimer Studierende öffentlichkeitswirksam Zeitungen und Artikel der Springerpresse.

Es gab aber auch Widerstand gegen die Revoluzzer: Mit der Parole „Freibier für alle“ legten es die konservativen Kräfte darauf an, die Kundgebung aufzumischen. Wilfrid Becker, der an einem Demonstrationszug von der Alten Kaserne bis zum Ludwigsplatz teilgenommen hatte, erinnert sich, dass auch dort ein Bierfass auf die Protestierenden gewartet hatte.

Das ADI brauchte den großen Bruder aus Mainz nicht

Damals wie heute, fand nur ein spärlicher Austausch zwischen den Standorten Mainz und Germersheim der JGU statt, was einem etwaigen Zusammenschluss Germersheimer und Mainzer Protestaktionen nicht zuträglich war. (Stichwort: SEMESTERTICKET AUCH FUER DIE STUDIERENDEN DES FACHBEREICH 06 JETZT!!!!!!!). Das führte aber immerhin dazu, dass sich die örtliche Studierendenschaft selbst organisierte und am 28. Mai 1968 eine Allgemeine Studentenversammlung abhielt. Wie überall im Land, übten die örtlichen Studierende scharfe Kritik an den Notstandsgesetzen und formulierten sogar ein Telegramm, das sich an Bundeskanzler Kiesinger richtete. Hierin sprach man dem Staatsmann das Misstrauen der Germersheimer Studierendenschaft aus. Es wurde sogar ein zweitägiger Boykott der Lehrveranstaltungen beschlossen. In Mainz wurde der Vorlesungsbetrieb hingegen nur für wenige Stunden bestreikt.

Auch wenn die Aktionen in Germersheim und Mainz weitgehend unabhängig voneinander organisiert und ausgeführt wurden, war zumindest die Reaktion der Bevölkerung sehr ähnlich: in ihrer Unterstützung der Studierenden. Die bis dato eher skeptischen Germersheimer Bürgerinnen und Bürger waren angesichts des sehr disziplinierten Schweigemarsches versöhnlich gestimmt und so konnten rund 800 Unterschriften gegen die Notstandsgesetze gesammelt werden.

Freundschaftlicher Umgang statt Oberlehrermentalität

Dass Exzesse und die ganz große Revolution in der pfälzischen Kleinstadt ausgeblieben sind, überrascht kaum, wenn man sich vor Augen führt, wie die allgemeine Lernatmosphäre am ADI war. Es war gang und gäbe, dass Dozierende ihre Dolmetschzöglinge nach dem Unterricht auf einen Kaffee einluden.

Wilfried Becker erinnert sich, dass ein Dozent sogar dazu überging, nach getaner Arbeit den Rest der Unterrichtszeit mit einem kleinen Umtrunk ausklingen zu lassen. Eine Dolmetscherin war für ihre Obstbrandsammlung bekannt, die sie ohne Umschweife mit ihren Studentinnen und Studenten teilte. „Unsere Dozenten damals, das waren noch echte Charaktere“, schwärmt Herr Becker. „Der Umgang zwischen ihnen und uns Studenten war absolut freundschaftlich. Geduzt hat man sich aber nicht.“

Insofern traf der für die 68er Proteste so bezeichnende Satz „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“ und die Kritik an verkrusteten Strukturen und Hierarchien, die damit einhergeht, nicht auf die Germersheimer Realität zu: „Die Mehrheit unserer Dozierenden waren Quereinsteiger und mehr Dolmetscherinnen und Dolmetscher als unantastbare Autoritätspersonen“, bestätigt Herr Becker.

Macht die Grenzen auf!

Ein Hauch von Revolution kam dann doch noch in Germersheim auf, zumindest für einen Moment. Als im Rundfunk zu hören war, dass die französische Grenzpolizei den Grenzübertritt für deutsche Studierende untersagte, formierte sich unter den Germersheimer Studierenden spontaner Protest. Eine Gruppe fuhr kurzerhand nach Lauterburg, dem deutsch-französischen Grenzübergang. Ob es an den hervorragenden Sprach- und interkulturellen Kenntnissen der Germersheimer Studis lag, ist nicht überliefert: Aber die französischen Zollbeamten ließen sie gewähren und erlaubten sogar, dass Flyer gegen die Notstandsgesetze verteilt wurden.

Geschlossene Grenzen? Da hört für uns in Germersheim der Spaß eben auf! 1968 wie im Jahr 2018 gilt:

Festung Europa, mach die Tore auf!