Im Monat des Hochfests der Heiligen Drei Könige wird ein Knochenkasten – ein Ossuar – aus dem Heiligen Land vorgestellt. Mit insgesamt sieben Exemplaren verfügt das Seminar für Altes Testament und Biblische Archäologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz über einen der größten Sammlungsbestände dieser Art in Europa.
Ossuare oder "Knochenkästen" sind ein typisches Relikt jüdischer Kunst um die Zeitenwende. Mehrere tausend derartige Ossuare dürften inzwischen bei Ausgrabungen gefunden worden sein. Allein die Sammlungen der Israelischen Antikenverwaltung umfassen 895 Exemplare (Stand 1994); jedes Jahr erhöht sich die Zahl durch neue Grabfunde erheblich. Sie stammen fast ausschließlich aus Gräbern in der Umgebung von Jerusalem und Jericho, vereinzelt wurden sie auch in anderen Regionen der südlichen Levante, aber auch in Alexandria und Karthago gefunden. Sie dienten der Aufbewahrung der Knochen – nicht der Asche wie bei vergleichbaren Kästen beispielsweise aus dem etruskischen Bereich – eines Verstorbenen, nachdem der Körper zerfallen war. Sie sind ein typisches Massenprodukt, wenngleich durchaus mit Unterschieden in der Gestaltung.
Inzwischen besteht ein Forschungskonsens, die Ossuare vorwiegend in die Zeit von 20 v. Chr. bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. zu datieren. Einige wenige Ossuare entstammen allerdings zweifelsfrei einer späteren Epoche, spätes 2. bis allenfalls frühes 3. Jahrhundert.
Zweitbestattungen gab es in Palästina bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. (Chalkolithikum), wurden danach aber wieder aufgegeben. Üblich war in der Bronze- und Eisenzeit die Bestattung in Gräbern, die im Besitz einer Familie gestanden haben dürften. War der Körper zerfallen und wurde in dem Familiengrab eine neue Grablege benötigt, wurden ältere Knochen zusammengesammelt und mit anderen Knochen in eine Knochengrube gelegt.
Mit der gestiegenen Bedeutung der Individualität in der hellenistischen Zeit wurde diese Bestattung in einem Familiengrab, bei dem sich die Knochen dann nicht mehr eindeutig einzelnen Verstorbenen zuweisen ließen, problematisch. Dies führte zu Einzelbestattungen. Angesichts eines enormen Bevölkerungsanstiegs Jerusalems und möglicherweise auch Jerichos in der späthellenistischen und frührömischen Zeit wurden die Grabplätze in den Nekropolen der Stadt knapp. Dies dürfte Anlass für die erneute Einführung von Zweitbestattungen gewesen sein, da nun in die einzelnen loculi auch mehrere Ossuare gestellt werden konnten. Nach etwa einem Jahr wurden die Knochen eines Verstorbenen eingesammelt und in einem Knochenkasten erneut "bestattet". In den Ossuaren fand man keine persönlichen Grabbeigaben. In den Grabkammern gab es aber diverse Gegenstände für das Leben im Jenseits wie beispielsweise Lampen oder Salböl.
Die Ossuare sind normalerweise etwa 60/80 x 30/40 x 30/40 Zentimeter groß, sodass sowohl die langen Knochen des Verstorbenen als auch der Schädel darin aufbewahrt werden konnten. Kinderossuare, die relativ selten sind, sind entsprechend kleiner. Das Ossuar wurde mit einem flachen oder giebeldachförmigen Deckel geschlossen und normalerweise aus Kalkstein hergestellt. Diese blieben entweder in der Farbe des Steins oder wurden mit roter Farbe bemalt. Späte Exemplare wurden auch aus Keramik verfertigt.
Üblicherweise ist die Vorderseite mit Gravuren verziert, die je nach Einkommen der Familie des Verstorbenen sehr aufwendig sein konnten. Es gibt mehrere typische Motive der Dekoration:
- Rosetten, oft mit einem Zirkel in die Vorderseite graviert
- Baum- oder Pflanzenmotive
- Grabfassaden (oder Tempelfassaden)
- Amphoren
Die Deutung der Motivik ist in der Forschung umstritten. Am ehesten sind die abgebildeten Symbole als Zeichen der Hoffnung auf das Weiterleben nach dem Tod zu verstehen. Die gelegentlich wunderschön ausgestaltete Rosette könnte ein Sonnensymbol sein, die wiederum Licht ins dunkle Jenseits bringen soll. Baum- und Pflanzenmotive könnten im Sinne von Lebensmotivik interpretiert werden. Die Amphore findet sich auch auf jüdischen Münzen und steht vielleicht für die Tempelgerätschaften und für das Heil, das vom Tempel ausgeht. Dies könnte auch für die Fassaden gelten, sofern sie die Tempelfassade wiedergeben.
Viele, aber längst nicht alle Ossuare weisen Inschriften auf. Sie wurden in Aramäisch, Hebräisch, Griechisch oder Palmyrenisch abgefasst und nennen entweder den Namen oder den "Spitznamen" der verstorbenen Person. Die Ossuare sind daher eine wichtige Quelle für die Namenskunde im 1. Jh. n. Chr. Die Inschriften sind in der Regel recht nachlässig eingeritzt und dürften daher von einem Familienmitglied stammen, während die Ossuare selbst von spezialisierten Handwerkern hergestellt wurden.
Nahezu jede archäologische Institution in Jerusalem oder Umgebung besitzt eine reichhaltige Anzahl von Ossuaren, die bei Bauarbeiten im Rahmen der Stadtentwicklung in den Jerusalemer Nekropolen gefunden wurden. Eine vollständige Zusammenstellung der Exemplare gibt es bisher nicht. Wegen des großen Gewichts wurden nur wenige Exemplare ins Ausland geschafft. Das Seminar für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz besitzt sieben Exemplare. Dies dürfte eine der größten Sammlungen in Europa sein.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Zwickel
Literatur (Auswahl)
- R. Hachlili, Jewish Ornamented Ossuaries of the Late Second Temple Period (Jerusalem 1988).
- R. Hachlili, Jewish Funerary Customs, Practices and Rites in the Second Temple Period (Leiden 2005).
- L.Y. Rahmani, A Catalogue of Jewish Ossuaries in the Collections of the State of Israel (Jerusalem 1994).
- J.K. Zangenberg, Dry Bones – Heavenly Bliss. Tombs, Post-Mortal Existence and Life-After-Death in Ancient Judaism (Leiden 2007).