Vielfältige Nutzungsspuren und ein zerriebener, zerbröselnder Einband lassen darauf schließen, dass dieses Exemplar des Katholischen Feldgesangbuchs aus dem Zweiten Weltkrieg lange in der Brusttasche eines Uniformhemds getragen wurde.
Es gehörte, so verrät der Besitzeintrag, Feldwebel Heinrich Gamm aus Castrop-Rauxel. Seine Erben wußten es anscheinend nicht zu schätzen, so dass es vor einigen Jahren in das Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gelangte.
Dort gilt es als Kostbarkeit, trotz seines schlechten Zustands, ja sogar gerade wegen der zahlreichen Benutzungsspuren, die wertvolle Auskünfte geben. Feldwebel Gamm hat seinen Besitzeintrag ergänzt um „Gef. No. 867 456 Chateaulin [Frankreich] Lager No. 119“. Dies verrät, dass er bei seinem Einsatz in Frankreich gefangen genommen wurde – von etwa September 1944 bis 1948 war er zunächst in amerikanischer, dann in französischer Gefangenschaft. Die Einträge „Chateaulin“ und „119“ sind durchgestrichen und ersetzt durch „Rennes [Ille et Vilaine]“ und "1102 Block 1".
Offenbar wurde der Gefangene Gamm von Chateaulin nach Rennes verlegt, wo sich jeweils Arbeitslager der Franzosen befanden. Beide Orte liegen in der Bretagne, die seit 1940 von den Deutschen besetzt war und im August 1944 von amerikanischen Truppen befreit wurde. Die Amerikaner gaben ihre Kriegsgefangenen, mehr als eine Million, im Laufe des Jahres 1945 an die Franzosen ab, die Arbeitskräfte benötigten.
Als Soldat und dann als Gefangener hatte er immer sein Feldgesangbüchlein dabei. Mit Bleistift schrieb er ein sehnsüchtiges Gebet hinein:
Fern der Familie.
Allmächtiger und barmherziger Gott. In Deiner Vorsehung hast Du es zugelassen, daß ich fern von meiner Familie lebe. Nur durch Gebet und Liebe kann ich ihnen nahe sein. Doch Du, Vater im Himmel, siehst auf all die Meinen, Du weißt, wie es ihnen geht u. was sie tun und treiben. Schütze und segne sie. Du bist bei ihnen, bleibe bei ihnen. Unterstütze die Gattin in Arbeit und Sorgen, hilf ihr, die Kinder recht erziehen. Schütze meine Kinder, erhöre mein Gebet, halte fern von ihnen alles Leid an Leib und Seele. Mich aber laß bald wieder heimkehren zu meiner Familie. Amen.
Hinten im Buch hat Feldwebel Gamm sich noch ein Abendgebet abgeschrieben, das auf den Komplethymnus "Te lucis ante terminum" zurückgeht:
Bevor des Tages Licht vergeht, hör, Welterschaffer, dies Gebet: Der Du so milde und so gut, nimm gnädig mich in Deine Hut. Gib daß kein böser Traum uns weckt, kein nächtlich Wahnbild uns erschreckt. Die Macht des Bösen dämme ein, daß unser Leib stets bleibe rein. Erhör uns, Vater, der Du mild mit deinem Sohn und Ebenbild und mit dem Tröster aller Zeit, dem Geist, regierst in Ewigkeit.
„Te lucis ante terminum“ ist in der Jugendbewegung popularisiert worden. Dass Gamm dies Gebet kannte, lässt vermuten, dass er jugendbewegt sozialisiert war. – Das Wort „regierst“ schrieb er übrigens in Stenographie.
Benutzungsspuren gehören zur Rezeptionsgeschichte, die ein „Steckenpferd“ der Mainzer Gesangbuchforschung ist. Über die individuellen Einträge hinaus zielt die Rezeptionsgeschichte auf die Erforschung des kulturellen Wandels, auf die Veränderungen der Gesangbücher bezüglich ihrer Buchgestalt und ihres Liedguts in Hinsicht auf Text, Melodik, Theologie und lebensweltliche Anbindung. Die Hymnologie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, in der sich katholische und evangelische Theologie, Germanistik, Buch-, Geschichts- und Musikwissenschaft auf natürliche Weise begegnen.
Militaria sind ein Sondersammelgebiet innerhalb der rund 5.000 Gesangbuchexemplare, die mitten auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am Johann-Friedrich-von-Pfeiffer-Weg 9 beheimatet sind. Militärgesangbücher sind meist weder reine Verlags- noch reine Kirchenprodukte. Obgleich das vorliegende einen Verlag (E. S. Mittler) und eine kirchliche Druckerlaubnis ("Mit Genehmigung des Katholischen Feldbischofs der Wehrmacht vom 24. August 1939") hat, erschien es als Dienstverordnung des Heeres, der Marine und der Luftwaffe, wie die Kürzel H. Dv. 372, M. Dv. 838 und L. Dv. 42 belegen.
In gleicher Ausstattung und im gleichen Jahr erschien auch ein Evangelisches Feldgesangbuch. Von außen sehen beide Publikationen gleich aus, von innen sind sie sehr unterschiedlich. Das Katholische Feldgesangbuch hat einen deutlich größeren liturgischen Teil (Gebete, Litaneien, Andachten, Meßformulare), dafür nur 48 Lieder statt 82. Die Deckungszone im Liedgut ist sehr gering, das konfessionell Katholische ist sehr ausgeprägt. Das Evangelische wie das Katholische Feldgesangbuch sind Produkte der nationalsozialistischen Zeit. Das zeigt sich nicht nur am Gebet für Führer, Volk und Wehrmacht, am Fahneneid des deutschen Soldaten und anderen Militärtexten, sondern auch an den Textrevisionen.
So erhält Großer Gott, wir loben dich eine nationalsozialistische Schlussstrophe:
Dort, wo unsre Fahnen wehn, sei's zu Lande, sei's zu Meere, laß die Treue Schildwach stehn, sei uns selber Waff'n und Wehre. Losungswort sei allzugleich: "Treu zu Führer, Volk und Reich!"
Das Katholische Feldgesangbuch von 1939 ist also ein gutes Beispiel dafür, welchen Veränderungen Gesangbücher durch den politischen Zeitgeist unterworfen waren, wie neben traditionelle Texte neue und bearbeitete Lieder und Gebete traten.
Hermann Kurzke
Weiterführender Link
Literatur
Andreas Wittenberg: Die deutschen Gesang- und Gebetbücher für Soldaten und ihre Lieder, Tübingen 2009