Was liegt näher, als im Dezember ein Objekt in den Blickpunkt zu rücken, das eine Beziehung zum Weihnachtsfest hat? Ausgerechnet in der Sammlung "Mathematik be-greifen" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) wird ein Objekt aufbewahrt, das Assoziationen zu den Tannenbäumen weckt, die alljährlich viele Wohnzimmer schmücken.
Unter den rund 70 Exponaten, die es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichen, Mathematik spielerisch durch eigenes Experimentieren zu entdecken, sticht ein Stück besonders hervor: ein überlebensgroßer, grüner Tannenzapfen. Rund einen Meter hoch ist die akribisch nach der Natur gearbeitete Nachbildung. Die Mainzer Künstlerin Meike Düppers hat sie eigens für die Sammlung angefertigt.
Was hat dieser Tannenzapfen mit Mathematik zu tun? Nun, sehr viel: Er veranschaulicht ohne weitere Hilfsmittel ein interessantes Phänomen in der Natur, mit dem sich Mathematiker bereits seit Jahrhunderten beschäftigen. Blickt man auf das dicke Ende eines Tannen- oder Kiefernzapfens, erkennt man links- und rechtsdrehende Spiralen. Die Anzahl dieser Spiralen unterliegt natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Das Zapfenmodell der Mainzer Sammlung weist 8 linksdrehende und 13 rechtsdrehende Spiralen auf. Dieselbe Anzahl findet sich auch bei Pinien- und Kiefernzapfen in der Natur. Tannen- und Fichtenzapfen haben 5 beziehungsweise 8 Spiralen, kleine Zapfen 3 beziehungsweise 5 Spiralen.
Auch Sonnenblumen weisen links- und rechtsdrehende Spiralen auf, etwa in der Kombination 21 links- und 34 rechtsdrehender Spiralen. Es finden sich aber auch die Kombinationen 34 und 55, 55 und 89 bis hin zu 144 und 233. Weitere Beispiele für das Auftreten dieser Zahlen in der Natur sind die Anzahlen von Blütenblättern: Schneeglöckchen: 3, Butterblume: 5, Rittersporn 8, Arnika: 13, Aster: 21, Gänseblümchen 34, 55 oder 89 Blätter. Rechnerisch – und damit kommen wir zur Mathematik – lassen sich diese Zahlen erzeugen, indem man in der Folge mit den Anfangsgliedern 1 und 2 jeweils das nächste Folgenglied durch Aufaddieren der beiden vorangehenden Folgenglieder gewinnt, also: 1, 2, 1+2=3, 2+3=5, 3+5=8, 5+8=13, 8+13=21, 13+21=34 und so weiter.
Dies sind die berühmten Fibonacci-Zahlen, benannt nach dem italienischen Kaufmann und Mathematiker Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci (um 1170-1250). Er verfasste im Jahr 1202 den Liber abaci, die erste systematische Einführung in das indisch-arabische Zahlenrechnen. Beim Wachstum der Zapfen streben die Pflanzen nicht die Spiralmuster an, die wir als Beobachter erkennen, sondern es werden zum Beispiel bei der Entstehung neuer Tannenzapfenschuppen ganz besondere Winkel von der Größe 137,5°, dem "Goldenen Winkel", eingehalten. Dieser teilt nämlich den Vollwinkel von 360° im Verhältnis des von der Streckenteilung her bekannten "Goldenen Schnitts": 137,5°/ 222,5° = 222,5°/ 360°. Durch die Einhaltung dieses Winkels von 137,5° erreicht die Pflanze eine optimale Flächenausnutzung, was aus ihrer Sicht ökonomisch ist, sodass sich dieses Muster im Laufe der Evolution immer weiter herausgebildet hat.
Der überdimensionierte Zapfen zeigt auf diese Weise eindrucksvoll, dass sich in der Natur und im menschlichen Alltag allerorten und von vielen unbemerkt mathematische Phänomene verbergen. Wie auch die anderen Modelle der vom Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz gemeinsam mit dem Institut für Mathematik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz erarbeiteten Sammlung sensibilisiert er für eine Seite der Mathematik, die vielen sicher nicht präsent ist: das Sinnliche und Spielerische, das im Schulunterricht vielfach zu kurz kommt. Deshalb ist es ein zentrales Ziel der Sammlung "Mathematik be-greifen", Lehramtskandidaten die Möglichkeit zu geben, Unterrichtseinheiten zu konzipieren und zu erproben, die das eigene Entdecken und Weiterdenken stärker in den Vordergrund rücken. Einige tausend Schülerinnen und Schüler haben in den vergangenen Jahren bereits mit Begeisterung mit den Modellen der Sammlung experimentiert und dabei erfahren, dass Mathematik nicht nur aus Theorie besteht. Ihr Blick auf viele Alltagserscheinungen hat sich dadurch möglicherweise ein wenig verändert. So lässt sie die Begegnung mit dem Tannenzapfenmodell sicher ganz anders auf den alljährlichen Weihnachtsbaum blicken ...
Dr. Ekkehard Kroll
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Literatur
Mehr zu diesem Thema, insbesondere die Erklärung der Naturerscheinung des "Goldenen Winkels", findet sich im Ausstellungskatalog zu "Mathematik be-greifen", der über die Sammlung zu beziehen ist.