Obwohl der Buddhismus die Hauptreligion der Bevölkerungsmehrheit der Insel Sri Lanka ist, existieren im Glauben der Menschen noch zahlreiche Götter- und Dämonenkulte. Magische Riten besänftigen den Zorn der übernatürlichen Wesen und sorgen für das diesseitige Glück.
Die Rituale, die in diesen Fällen als Schutzzauber angewandt werden, nennt man Bali-Rituale (sprich Balli). Eine wichtige Funktion während einer solchen Zeremonie nehmen die Bali-Bilder ein. Dabei handelt es sich um Figuren, die auf einem hölzernen, mit einem Baumwolltuch bespannten Rahmen aus Lehm reliefartig herausgeformt werden. Mit Farbe ausgemalt, repräsentieren sie während der Kulthandlung die beteiligten Dämonen, Gottheiten oder Planeten. Um das Zusammenspiel von Göttern, Dämonen und Planeten sowie die Wirksamkeit astrologischer Konstellationen darzustellen, sind die Abbildungen zum Teil von hoher Komplexität. Nach Beendigung der Veranstaltung werden die Lehmfiguren zerstört, damit sie zu keinem bösen Gegenzauber missbraucht werden können.
Merkmale und Ausgestaltung der Ritualbilder werden in Schüler-Lehrer-Überlieferungen weitergegeben, aber auch in ikonographischen Texten beschrieben. Diese sind jedoch sehr knapp gehalten und erfordern traditionelle Kenntnis und Ausbildung zu ihrer Umsetzung. Die Bilder der Sammlung sind mit Wasserfarbe auf Papier gezeichnete Wiedergaben solcher Kultbilder. Aus diesem Grund besitzen die Aquarelle einen einzigartigen Dokumentationswert. Durch sie bleibt ein traditioneller Aspekt der Kunst und Volksreligion Sri Lankas, der leider immer weiter zurückgedrängt wird, erhalten. Weiterhin bieten die Bilder die einzigartige Möglichkeit, mehr über singhalesische Volkstraditionen zu erfahren.
Die Sammlung von Ritualbildern am Institut für Indologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz besteht aus 360 Aquarellen, die der Künstler und Tempelmaler Endoris Kulasekara aus Maharagama, Sri Lanka, im Auftrag von Dr. Hans Ruelius im Jahre 1976 anfertigte. Das hier gezeigte Bild, das derzeit auch in der Ausstellung "Wertsachen. Die Sammlungen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz" im Mainzer Rathaus zu sehen ist, stellt den Dämon namens Garuḍa dar. Garuḍa, Singhalesisch auch Guruḷā, ist ein mythischer riesenhafter Geier, Fürst der Vögel und Reittier des Gottes Vişṇu. Er gilt als Feind und Vertilger der Nāgas, der Schlangen. Der Kampf des Garuḍa gegen die Schlangen wird häufig in Maskentänzen dargestellt. Vögel und Schlangen sind auch in der indischen Mythologie archetypische Erbfeinde. Das Kultbild des hier abgebildeten, nach Garuḍa benannten Vogel-Dämons wird im Ritual gegen Schlangenbisse und Bisse anderer wilder Tiere eingesetzt.
Dr. Marion Meisig, Betreuerin der Sammlungen der Indologie
Nina-Mareike Obstoi, M.A., Doktorandin der Indologie